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Leseprobe: Heartbeat - Eine Sehnsuchtsmelodie - Mona Frick

                                  

Zitat

Eine Frau, zwei Männer – eine Geschichte so alt, wie die Menschheit. Und doch unterscheidet sich ihre. Oder wie Tolstoi sagt: »Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.«

Prolog

   Mit einem tiefen Seufzer betrachtete sie ihre Nofretete und steckte sie in die Tasche. Die winzige, kostbare Büste erinnerte sie an die schönen Zeiten mit Alexander. In dem Moment, als der Verschluss ihres Koffers zuschnappte, öffnete sich die Tür.

   Alexander trat ins Schlafzimmer und umfasste die Lage mit einem Blick. Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Du willst also wirklich gehen? Die verrückte Julia ist dir wichtiger, als ich es bin? Wer gibt dir das Recht, zu moralisieren?«

   Marie packte mit scheinbarer Gelassenheit weiter ihre Sachen zusammen, obwohl sie wankte. Wenn sie jetzt nicht ginge, wäre sie verloren, ihm ausgeliefert. Und wer weiß, ob sie nicht doch irgendwann enden würde wie Davids Schwester. Langsam schloss sie ihre Tasche. »Du wirst mich nicht aufhalten. Ich gehe zu meinen Eltern.«

   »Heim zu den Eltern? Das sieht dir gar nicht ähnlich. Wieder die brave Tochter spielen, wenn dir der Abgrund zu gefährlich scheint. Vergessen all die kühnen Sätze wie: ›Ich kenne keine Angst‹ – feige, das bist du!«

   Marie stürmte an ihm vorbei, rannte aus der Wohnung, ließ dabei ein kleines Stück ihres Herzens zurück …


Die Soiree

   Der Geruch der verblühenden Rosensträucher wehte durch die weit geöffneten Türen von der Terrasse hinein und verlieh dem Abend zusammen mit der warmen Luft etwas Bedeutungsschweres. Marie mochte diesen süßlich-drückenden Geruch der Vergänglichkeit. Diesen Geruch der Rosensträucher und den Blick auf die Terrasse hatte sie in Paris vom ersten Tag an vermisst – und natürlich ihre Eltern.

   Die Stimme ihrer Mutter riss sie aus ihren Tagträumen. »Liebes, du solltest dich langsam umziehen, die Gäste kommen doch bald.«

   »Du meinst wohl, die jungen Männer, Mama. Glaubt ihr eigentlich, ich finde nicht selbst einen Mann?«

   »Wie kommst du darauf, wir wollten dich verkuppeln, mein Herz? Wir feiern deinen Geburtstag und deine Rückkehr aus Frankreich – es kommen außerdem auch Frauen. Zum Beispiel deine Charlie!«

   »Aha, und dieser Gast …« Marie betonte das Wort. »… und dieser, und dieser …« Willkürlich zog sie beantwortete Einladungskarten aus dem Stapel auf der silbernen Schale im Entree. »Alles nur Gäste, aber zufällig allesamt männlich, gebildet, jung und attraktiv und vor allem unverheiratet, also wirklich, Mama!« Marie blickte streng, aber insgeheim musste sie über die Bemühungen ihrer Mutter schmunzeln. »Ich suche keinen Mann, wirklich. Ich will jetzt erst einmal arbeiten, wozu hätte ich sonst studieren sollen?«

   »Wer sagt denn, dass du gleich heiraten und Kinder kriegen sollst! Aber ein Freund, ein Partner, wäre doch schön. Du bist immer allein, und das macht mir Sorgen, das ist alles. In den letzten Jahren hast du nie von einem Mann erzählt. Es gibt noch mehr im Leben als Studium und Arbeit.«

   »Mama, du müsstest mich doch am ehesten verstehen. Du warst eine der Besten im Studium und so erfolgreich bei den Ausgrabungen und bist trotzdem wieder ins beschauliche Baden-Baden gekehrt, als ich in die Schule kommen sollte.«

   »Und ich habe es nie bereut. Aber jetzt geh endlich auf dein Zimmer und mach dich fertig!« Mit gespielter Strenge schob ihre Mutter sie aus der Tür.

   Na, was schadete es schon. Marie hatte lieber junge Gäste auf ihrer Party als die gediegene Gesellschaft, die sich sonst bei solchen Anlässen in ihrem Elternhaus einfand. Sie legte die Einladungskarten zurück in die Schale und ging in ihr Zimmer.

   Trotzdem – es wurde höchste Zeit, dass sie sich nach einer eigenen Wohnung umsah. Alt genug war sie nun wirklich.

   Marie entschied sich für ein rotes, bodenlanges Kleid mit tiefem Rückenausschnitt und legte die doppelreihige Perlenkette um, die sowohl auf dem Dekolleté als auch auf dem Rücken auflag. Der hauchzarte Seidenstoff umfloss ihre schlanke Figur und ließ keine Kurve verborgen. Dunkler Lidschatten betonte ihre bernsteinfarbenen Augen.

   Bis auf die Augen war sie das genaue Ebenbild ihrer schönen Mutter: die gleichen klassischen Gesichtszüge, die etwas zu voll geratenen Lippen, sogar ebenso honigfarbene Haare. Noch heute sahen sich die Männer nach ihrer Mutter um, das hieß, bevor sie die Aufmerksamkeit auf die Tochter mit den seltsamen Augen richteten.

   Zufrieden musterte sich Marie im Spiegel. Die Haare trug sie heute gewellt und mit Mittelscheitel, die Lippen glänzten perlmuttfarben. Sie zwinkerte ihrem Spiegelbild vergnügt zu und verließ ihr Zimmer.

   Als der Arm des Vaters später wohlwollend um ihre Schultern lag, daneben die Mutter, ganz offensichtlich zufrieden mit dem Abend und ihrer wohlgeratenen Tochter, fiel Maries Blick auf einen jungen Mann, der so gar nicht zu der illustren Gesellschaft passen wollte. Er war salopp in Jeans und T-Shirt gekleidet und erinnerte sie mit seinen zarten Gesichtszügen ein wenig an Brad Pitt in »Rendezvous mit Joe Black«, in dem er zwar den Tod spielte, aber auf sehr unschuldige Weise. Sie schätzte ihn etwas jünger als sich selbst. In der Menge der Herren im Abendanzug wirkte er völlig deplatziert. Wer mochte das sein? Seiner Miene nach zu urteilen, stießen ihn sowohl seine Gastgeber als auch das Haus und die dargebotenen Speisen geradezu ab, und auch Marie würdigte er keines Blickes. Marie fragte ihre Eltern nach dem Gast, aber sie wussten nicht, von wem sie sprach. Und kurze Zeit später musste er das Haus verlassen haben, denn sie sah ihn nicht mehr. Dafür kam endlich ihre beste Freundin auf sie zugeeilt.

   »Charlie! Es ist so schön, dich zu sehen. Hat dich dein Mann also doch weggehen lassen! Oder war es schwierig?«

   Marie lachte bei den Worten, aber sie drückte ihre Freundin ganz fest. Wie lange hatte sie sie nicht gesehen …? Zu lange! Neben ihren Eltern war Charlie der einzige Mensch, den sie all die Jahre in der Fremde vermisst hatte.

   »Oh Marie, es tut mir leid, dass ich letzte Woche nicht zum Flughafen kommen konnte und mich noch gar nicht hab blicken lassen. Aber Leo zahnt, ich konnte ihn einfach nicht weggeben, ohne dass er in Tränen ausgebrochen wäre. Heute geht’s viel besser. Bernd kommt also alleine klar.«

   Charlotte lachte und sah dabei unheimlich glücklich aus, wie Marie ein wenig neidisch feststellte. Da lebte sie jahrelang in Paris, machte Studienreisen in den tollsten Hotels in Kairo und Amman, und ihre Freundin Charlie hatte im kleinen Baden-Baden ihr Glück gefunden! Wenn sie sich Charlie so ansah, beschlich sie der Gedanke, sie könne etwas Entscheidendes in ihrem Leben verpasst haben, indem sie es scheinbar in vollen Zügen genoss. Wirkte nicht auch ihre Mutter ausgeglichen? Marie kam ins Grübeln. Nie hatte sie so eine Akademikerin werden wollen, die sich häuslich niederließ und nur noch der Erziehung der Kinder widmete, sobald ein Mann daherkam. Sie erinnerte sich des blöden Spruchs den ihr Professor ihr einmal mitgegeben hatte: ›Sie studieren doch auch nur, um einen passenden Mann zu finden. Warum sollte ich meine Energie darauf verschwenden, Sie zu fördern?‹ – Wie weit hatte sie das von sich gewiesen, und plötzlich … Ärgerlich schob sie die aufkeimende Sehnsucht von sich. Sie freute sich für Charlie und basta!

   »Macht doch nichts, Hauptsache, heute bist du da. Wie alt ist euer Leo denn inzwischen? Das letzte Mal an Weihnachten war er noch so winzig!«

   »Übernächste Woche wird er ein Jahr alt. Aber du kommst uns doch vorher besuchen, oder nicht? Am besten gleich morgen! Aber jetzt erzähl, wie war es denn noch in Paris?«

   »Das letzte Semester mussten wir ganz schön büffeln, und ich hatte kaum noch Zeit, zu meinem Lieblingsplatz an der Seine zu gehen, aber es war schon toll dort. Erinnerst du dich noch an den Moment, wenn die Lichter am Eiffelturm angehen?«

   Der Gedanke an diesen wunderschönen Anblick weckte in Marie Heimweh nach Paris, der Stadt, in der sie so viele Semester studiert hatte.

   »Natürlich, es war immer ein magischer Moment.« Sie seufzte. »Was habe ich dich all die Jahre beneidet um dein Studium in dieser spannenden Stadt!«

   Beinahe hätte Marie laut aufgelacht. Da waren sie beide ihrem Traum gefolgt und doch neidisch auf das Glück der anderen. Sie selbst hatte sich schon früh für ein Studium der Altertumswissenschaft entschieden, während Charlie ihr eigenes kleines Modeatelier eröffnet hatte. »Wenn wir damals gewusst hätten, dass du bald ein Kind bekommst, hätten wir mehr Besuche für dich eingeplant. Apropos planen, meine Mutter schaut dauernd zu mir rüber, ich glaube, ich muss ein paar Hände schütteln gehen. Morgen komme ich dich besuchen, und dann reden wir in Ruhe.«

   »Halt, Marie!« Charlotte hielt sie am Arm fest und zog sie in eine feste Umarmung. »Ganz vergessen: happy birthday, liebste Lieblingsfreundin!«

   »Danke, Charlie. Und du, geh mal zu meinem Vater, der will dich schon lange über Bernds Praxis ausfragen, vor allem natürlich über die Brücken, die er immer zaubert. Paps hat doch so Zahnprobleme und sucht einen neuen Zahnarzt. Und hol dir was vom Buffet! Die Häppchen sind der Hammer. Und der Weißwein erst …« Nach diesen Worten gesellte sich Marie zu ihrer Mutter, die sie warm anlächelte.

   Maries Vater, der offensichtlich nur auf den Moment gewartet hatte, da sie als Familie nebeneinanderstanden, klopfte ans Glas und brachte damit die Gäste zum Verstummen. Er blickte in die Runde, erhob sein Glas und sprach: »Schön, dass ihr alle gekommen seid, um mit uns zusammen auf Marie anzustoßen! Unsere wunderschöne Tochter, die endlich wieder bei uns ist, nachdem sie ihr Studium erfolgreich abgeschlossen hat, und die heute Geburtstag hat. Wir sind sehr stolz auf dich. Erheben wir unser Glas auf Marie!« Er lächelte sie an.

   Die Gäste klatschten und riefen ihr Glückwünsche zu.

   Marie bedankte sich bei ihren Eltern und wollte gerade ein paar neue Gäste begrüßen, als ihre Mutter sie aufhielt. »Marie, meine Liebe, spiel uns doch bitte das Stück vor, das du in den letzten Tagen so häufig geübt hast. Es würde wundervoll passen, findest du nicht?«

   »Auf keinen Fall, Mama, ich bin doch kein Zirkuspferd!«

   »Ach, Marie, mir zuliebe.« Dabei schaute ihre Mutter sie mit so sanftem und bittendem Blick an, dass sie ihr den Wunsch nicht abschlagen konnte.

   Marie setze sich ans Klavier. Nach und nach verstummten die Stimmen im Raum, und als bis auf erwartungsvolles Füßescharren nichts mehr zu hören war, setzten sich ihre Finger wie von selbst in Bewegung und ließen das Lied erklingen, das ihr seit Tagen nicht aus dem Kopf ging. Seit sie die Musik das erste Mal vernommen hatte, ließ diese eine Saite in ihrem Herzen vibrieren. Heartbeat hieß die Melodie so treffend, die eine Sehnsucht in ihr ausgelöst hatte, die Sehnsucht nach der großen Liebe, die sie vervollständigen würde, anders als die Liebschaften, die sie bisher gehabt hatte – auch wenn sie es vor ihrer Mutter und sich selbst nicht zugeben wollte.

   Sie verlor sich in ihren Träumen und spielte wie in Trance, bis das Lied verklang. Der Applaus holte sie in die Realität zurück, und fast schüchtern wandte sie sich ab, noch ganz gefangen vom Zauber der Töne. Wie von fern sah sie einen späten Gast eintreffen.

   »Liebes, ich möchte dir jemanden vorstellen.« Ihr Vater kam mit dem gut aussehenden Mann auf sie zu.

   Schon von Weitem fielen ihr seine Augen auf, fast wie die eines Wolfes. Als er sie ansprach, hatte auch sein Blick etwas Raubtierhaftes. »Endlich lerne ich Sie kennen, Ihr Vater hat mir schon so viel von Ihnen erzählt.«

   Seine rauchig-kehlige Stimme bereitete Marie Unbehagen und überzog ihre Haut zugleich mit einem wohligen Schauer. Ihre Nackenhärchen stellten sich auf.

»Alexander, du kannst meine Tochter doch duzen«, fiel ihr Vater dem Mann ins Wort, dann ließ er die beiden mit einem letzten wohlwollenden Blick allein.

   »Alles Gute zum Geburtstag, Marie! Übrigens, ein interessantes Klavierstück hast du gespielt. Kenne ich gar nicht, und das will was heißen.« Sein Mund war zu einem Lächeln verzogen, aber seine Augen blickten seltsam ernst, fast angespannt.

   Sie wusste nicht, was genau es war, aber etwas Gefährliches ging von diesem Mann aus. Er trug seinen Smoking, als wäre es sein liebstes Kleidungsstück. Auf eine Fliege hatte er verzichtet, und die oberen zwei Knöpfe seines Hemdes standen offen, was ihm erst recht einen verwegenen Ausdruck gab. Gebräunte, glatte Haut blitzte unter seinem Hals hervor. Er sah gut aus, keine Frage, aber etwas Selbstverliebtes ging von ihm aus, und das nervte sie, reizte zum Widerstand.

   »Heartbeat – Herzschlag, aber Sie …«

   Du!«, fiel ihr Alexander ins Wort, während er sich durch das dichte schwarze Haar strich.

   »… wirken nicht, als ob Ihr Herz jemals aus dem Takt geriete«, vollendete Marie unbeirrt ihren Satz.

   »Manchmal schon.« Er nahm ihre Hand, hauchte einen Kuss darauf, schenkte ihr noch einen dieser unergründlichen Blicke und gesellte sich dann zu den anderen.

   Wie sollte sie denn das jetzt verstehen? Ließ sie einfach stehen wie ein unartiges Kind! Irritiert ging sie zu ihrer Mutter und plauderte den restlichen Abend mit verschiedenen Gästen. Charlie war leider schon gegangen, aber sie würde sie ja morgen wiedersehen.

   Die meisten Männer bemühten sich, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und ihr zu gefallen, nur dieser Alexander schien sich nach dem anfänglichen verbalen Schlagabtausch nicht um sie zu kümmern. Marie bemerkte wohl, dass er von den weiblichen Gästen angeschmachtet wurde. Er flirtete mit allen und schien ihr Interesse zu genießen. So ein Playboy kann mir gestohlen bleiben, dachte Marie und diskutierte umso lebhafter mit ihrem aktuellen Gesprächspartner, der zwar ganz nett war, sie aber schon nach wenigen Minuten langweilte.

   Als es auf Mitternacht zuging, waren die meisten Gäste schon gegangen, nur Alexander unterhielt sich noch mit ihrem Vater. Dann verabschiedete er sich von ihm und kam auf Marie zu. »Sehen wir uns wieder?« Bei diesen Worten glitt sein Blick aufreizend langsam über ihren Körper.

   »Sollten wir? Den Abend über sah es nicht so aus, als wäre Ihr Interesse besonders groß.«

   »Eifersüchtig?« Es schien ihn zu amüsieren, denn er lachte laut auf.

   »Blödsinn!« Mit Unbehagen registrierte Marie, dass sie schon jetzt kaum noch seiner Anziehung wiederstehen konnte. Gefahr hatte sie schon immer angelockt, und seine rauchige Stimme tat ihr Übriges.

»Du hörst von mir. Und das nächste Mal, wenn wir uns treffen, bekommst du auch ein Geburtstagsgeschenk.«

   Zum Abschied hauchte er ihr einen weiteren Kuss auf den Handrücken. Dann – Marie blickte sich erschrocken um, ob ihre Eltern noch in der Nähe standen – küsste er sie mit heißem Atem auf die Handinnenfläche. Dabei schaute er lockend zu ihr hoch.

   Marie durchfuhr eine Schockwelle. Nur zu gut konnte sie sich vorstellen, wie dieser Mann sie entflammen würde. Sie wollte ihm auf keinen Fall zeigen, was für ein Aufruhr in ihrem Inneren herrschte, also zog sie die Hand zurück und gab ihm gelassener, als sie sich fühlte, einen Kuss auf die Wange. Sie schloss mit klopfendem Herzen die Tür hinter ihm.

   »Wie gefällt dir Alexander?«

   Maries Vater stand plötzlich hinter ihr. Hoffentlich hatte er die Szene nicht mitbekommen.

   »Er ist der Sohn meines Geschäftspartners. Ein paar Jahre älter als du, erfolgreich und, wie ich meine, auch attraktiv. Eigentlich müsste er dir doch gefallen? Lass dich nicht von seinem Gehabe abschrecken, er ist ein feiner Kerl, genauso wie sein Vater.«

   »Ich bin müde, Papa, aber danke für deine Hilfe dabei, mir den richtigen Mann auszusuchen«, antwortete Marie lachend. Sie küsste ihren Vater liebevoll auf die Wange und ging nach einer Umarmung und letzten Glückwünschen ihrer Mutter auf ihr Zimmer.

   Im Bett ließ sie den Abend Revue passieren und landete unweigerlich immer wieder bei Alexander. Jede Pore dieses Mannes verströmte pure Erotik! Ob ihre Eltern das im Sinn gehabt hatten? Auf Marie hatte er jedenfalls nachhaltigen Eindruck gemacht. Sie war gespannt, was die Zukunft für sie bereithalten würde, und lächelte in sich hinein.

   Am nächsten Tag erwachte sie mit starken Kopfschmerzen und zweifelte an ihrer Erinnerung. Wahrscheinlich hatte sie einfach zu viel Wein getrunken und sich die heißen Küsse auf die Handinnenflächen nur eingebildet.

   Nach einem umfangreichen Frühstück mit ihren Eltern und ganz viel Kaffee machte sie sich auf den Weg zu ihrer Freundin.


Doppeltes Lottchen

   »Schön, dass du da bist, Marie, hier halt mal kurz.«

   Kaum war Marie über die Türschwelle getreten, drückte ihr Charlie schon den kleinen Leo in den Arm, der sie freudig anstrahlte.

   Marie hatte sich bereits letztes Weihnachten in das Kerlchen verguckt, das mit großen blauen Augen in die Welt blickte, aber inzwischen war er noch süßer geworden. Sie zog ihn an sich und atmete seinen Babyduft ein. Er lachte und bog den Kopf nach hinten, weil sie ihn im Nacken kitzelte.

   »Leo ist ja noch süßer geworden! Er ist zum Fressen.«

   »Ja, tagsüber, aber nachts könnte ich ihn manchmal erwürgen, wirklich! Aber wenn er mich dann morgens wieder so anstrahlt, ist alles vergeben und vergessen. Kannst du ihn noch kurz halten, dann mache ich uns schnell einen Kaffee.« Charlotte zog Marie hinter sich her in die Küche, wo sie Leo eine Quietschente in die Hand drückte. »Setz dich doch so lange auf die Eckbank.«

   Marie nahm Platz und schaute sich um. Es war so gemütlich in der Küche ihrer Freundin, aber sie konnte gar nicht sagen, woran es genau lag. Die Einrichtung war relativ schlicht und weiß, doch die bunte Tapete, der Blick auf den Garten und vor allem Charlie mit ihrer mütterlichen Art machten den Raum behaglich. Wahrscheinlich lag es auch an dem frischen Kaffeeduft, der bald in der Luft lag, und den lecker aussehenden Waffeln, die auf dem Tisch warteten.

   Marie lehnte sich entspannt zurück, während Leo auf ihrem Schoß zufrieden brabbelnd mit seiner Ente spielte und immer wieder lachte, wenn das Gummitier unter seinen Händen quietschte.

   Charlie lächelte ihr zu. »Vermisst du dein Leben in der Ferne?«

   »Ein bisschen schon, aber ich bin auch froh, wieder zu Hause zu sein. Dich und den kleinen Fratz mal wieder zu sehen.« Sie brachte Leo zum Jauchzen, indem sie ihn mit vielen kleinen Küssen im Nacken kitzelte. »Und schließlich kann ein Lottchen nicht lange ohne das andere sein.«

   Charlotte lächelte wehmütig über die Anspielung auf ihre gemeinsame Schulzeit, in der Marie und sie immer das doppelte Lottchen genannt wurden: Weil sie überall zusammen auftauchten, sich gleich kleideten, dieselbe Frisur und Haarfarbe hatten – und natürlich wegen Charlies Namen. Sie wurde damals von allen Lotte gerufen, nur Marie nannte sie vom ersten Tag an Charlie. Da sie schnell unzertrennlich waren, freute sie der gemeinsame Spitzname.

   Maries Gedanken wanderten zurück in diese unbeschwerte Zeit – was sie alles miteinander durchgestanden hatten! Die Probleme mit Lehrern und schlechten Noten, Ärger mit den Eltern, die erste Liebe … Plötzlich sah Marie ganz bestimmte Augen vor sich.

   »Sag mal, kennst du einen Alexander? Paar Jahre älter als wir, sieht klasse aus, graue Augen, dunkle Haare«, wechselte Marie das Thema. »Mein Vater hat ihn mir gestern vorgestellt, da warst du aber schon weg. Er ist wohl der Sohn von einem seiner Geschäftsfreunde.«

   Charlie grinste. »So, so. Und ich dachte, du willst dich deiner Forschung widmen.« Marie warf die Ente nach ihr. Leo krähte vor Vergnügen, während Charlie sich rechtzeitig wegduckte. »Du wirfst noch immer so schlecht wie im Schulsport, meine Liebe!« Dann fuhr Charlie ernster fort. »Alexander, ja. Ich kenne ihn, aber nur aus der Ferne. Die letzten Jahre ist er immer mal auf verschiedenen Festen aufgetaucht. Er scheint mir ein ziemlicher Playboy zu sein. Aber er sieht wirklich super aus.«

   »Kommt mir auch so vor wie ein Weiberheld.« Trotzdem stahl sich ein verträumtes Lächeln auf Maries Lippen.

   »Oh, oh, da hat sich aber jemand in einem ausgeworfenen Netz verfangen!«

   »Blödsinn. Ich sage ja nur, dass er klasse aussieht. Mehr nicht.«

   Charlie nickte wissend, und für den Rest des Nachmittags sprachen sie nicht mehr über Alexander. Bevor Charlies Mann Bernd nach Hause kam, verabschiedete Marie sich.

   Als Charlie sie an die Tür brachte, fragte sie plötzlich: »Du sprichst doch noch Arabisch, oder nicht?«

   »Ein bisschen eingerostet ist es schon. Mein Auffrischungs-Kurs in Marokko liegt ewig zurück, und das Kinderarabisch aus meiner Zeit in Ägypten hab ich längst vergessen. Ich brauchte die Sprache auch nicht mehr, außer den Fachbegriffen bei den Kulturdenkmälern wurde das ganze Studium auf Französisch gehalten. Warum?«

   »Ach, ich habe neuerdings ein paar arabische Kundinnen im Atelier. Vielleicht hast du schon mitbekommen, dass in den letzten Jahren neben den reichen Russen auch viele Araber nach Baden-Baden gekommen sind. Ich könnte deine Übersetzungshilfe gebrauchen.«

   »Kommst du mit Leo überhaupt noch zum Nähen?«

   Marie zog ihre Jacke an und packte die Schokoladenwaffeln, die Charlie ihr noch aufgedrängt hatte, in die Tasche.

   »Ach, na ja. Wenn er nachmittags schläft und spätabends, natürlich nicht mehr so viel wie früher, aber die Araberinnen sind gute Kunden, also mach ich es möglich. Nur die Verständigung ist manchmal schwierig, und bei Sonderwünschen sollte ich schon verstehen, was sie genau meinen.«

   »Natürlich, ich helf dir gern. Wenn du mich das nächste Mal zum Übersetzen brauchst, ruf einfach an! Aber ich komme auf jeden Fall spätestens zu Leos Geburtstag wieder.« Mit einem Kuss auf die Wange verabschiedete sie sich von ihrer Freundin.

   Als sie sich nach ein paar Schritten umdrehte, warf sie noch einen letzten Blick auf den kleinen Leo, der auf Charlies Hüfte saß und die Ärmchen nach ihr ausstreckte. Sie winkte ihm noch einmal zu und ging summend nach Hause.


Golfturnier

   Eine Woche verging, doch Alexander meldete sich nicht. Also hatte sie sich sein Interesse an ihr tatsächlich eingebildet. Oder er ist doch nur ein Schaumschläger, dachte Marie genervt und beschloss, die Sache abzuhaken.

   Wie an jedem ersten Samstag der Golfsaison begleitete Marie ihre Eltern zum Golfplatz, wo ihr Vater ein hoch dotiertes Turnier sponserte. Sobald der letzte Flight die Runde beendet hätte, würde er die Siegerehrung vornehmen. Das Wetter war mild, perfekt für das Turnier: nicht so heiß, dass man Mühe hatte, die Runde zu absolvieren, und kein Wind oder Regen, welche die Flugbahn der Bälle abfälschen konnten. Alle Teilnehmer und Zuschauer waren offensichtlich in Spiellaune, und auf dem Golfplatz herrschte beste Stimmung. Die Flights, die schon fertig gespielt hatten, standen in kleinen Grüppchen und diskutierten die hervorragenden Bedingungen auf den Grüns.

   Marie hatte genug gehört, sie spielte zwar Golf, aber war weit entfernt davon, eine Leidenschaft für den Sport zu entwickeln. Heute genoss sie ganz einfach die angenehmen Temperaturen und schlenderte zur Terrasse des Klubhauses. Da erweckten zwei Gestalten ihre Aufmerksamkeit. Hinter einem Busch standen sie und stritten sich, Alexander und der rätselhafte junge Mann von ihrer Soiree. Das war nun wirklich ein seltsamer Zufall. Marie fragte sich, was die beiden miteinander zu tun hatten. Neugierig lief sie auf die beiden zu.

   Alexander entdeckte sie als Erster und küsste sie leicht auf die Wange, drückte dabei seinen männlichen, wohlriechenden Körper enger an sie, als nötig oder auch nur schicklich gewesen wäre. Der andere Mann, den sie für sich ›Brad‹ getauft hatte, nickte in ihre Richtung und entfernte sich wortlos. Mit wütenden Schritten verließ er das Golfgelände.

   Marie freute sich sehr, Alexander wiederzusehen, mehr, als sie gedacht hatte, und so ging sie auch auf die vertraute Begrüßung ein. Zugleich war sie verblüfft, dass ausgerechnet die beiden interessantesten Männer der Soiree sich kannten.

   »Was machst du denn hier? Hast du heute gespielt?«, fragte Marie. Sie wartete seine Antwort gar nicht ab, zu neugierig war sie. »Wer war denn das? Er war neulich bei unserer Soiree, aber meine Mutter kannte ihn nicht.«

   Alexander machte eine wegwerfende Geste. »Ach, niemand. Nein, ich habe mich zu spät zum Turnier angemeldet, da waren schon alle Flights voll. Heute bin ich wegen dir da. Das Kleid steht dir ganz wunderbar! Wollen wir nicht einen kleinen Spaziergang machen?«

  Dabei musterte er ihren Körper und das leichte Sommerkleid so aufreizend, als wäre es durchsichtig. Ihr wurde wieder ganz heiß, und sie verspürte dieselbe Erregung, die sie am Abend des Festes überkommen hatte. Mit klopfendem Herzen folgte sie ihm auf einem Pfad durch die parkähnliche Anlage.

   Er wandte sich ihr zu. »Was denkst du? Du lächelst so geheimnisvoll.«

   »Ich erinnere mich gerade an unseren Abschied. Am nächsten Morgen war ich mir gar nicht mehr sicher, ob ich es mir nicht eingebildet hatte.« Sie schenkte ihm einen aufreizenden Blick. Wozu die Vorbehalte? Man lebt schließlich nur einmal.

   »Glaub mir, du wirst noch mehr Dinge mit mir erleben, bei denen du später zweifeln wirst, ob du sie tatsächlich erlebt hast«, antwortete er geheimnisvoll.

   »Was ist eigentlich mit dem Geburtstagsgeschenk, oder war das ein hohles Versprechen?«, neckte ihn Marie. Warum war sie nur so kokett, so kannte sie sich gar nicht! Sonst war sie immer die Kühle, Unnahbare, aber dieser Typ brachte sie dazu, sich wie ein Teenager zu verhalten. Ihr Herz schlug schneller, als er ihre Hand nahm. Wie damals bei meinem ersten Rendezvous, erinnerte sie sich irritiert. Sie war doch kein kleines Mädchen mehr!

   »Du bekommst dein Geschenk noch«, antwortete Alexander lächelnd, während er sie zu einer Bank führte, die etwas abseits gelegen hinter einer Laube stand.

   Marie war schon oft auf dem Golfplatz gewesen, aber diese Bank war ihr noch nie aufgefallen. Alexander setzte sich und zog sie neben sich.

   Heiß strich sein Atem über ihre Wange, als er ihr zuflüsterte: »Dein Blick hat sicher schon manchem Mann den Verstand geraubt. Du hast Tigeraugen, hat dir das schon einmal jemand gesagt?«

   »Und du hast die eines Wolfes.«

   »Dann passen wir ja perfekt zusammen. Fragt sich nur, wer von uns das Raubtier und wer die Beute ist«, flüsterte Alexander ihr ins Ohr.

   Maries Herz hämmerte inzwischen in wildem Rhythmus an ihre Rippen. Sie wusste, er würde sie gleich küssen, und sie sehnte sich nach dem Kuss, als würde er sie aus hundertjährigem Schlaf wecken. Was machte dieser Mann nur mit ihr? Er hielt sie hin, betrachtete sie eindringlich und entblößte seine weißen Zähne zu einem verführerischen Grinsen.

   Endlich näherten sich seine Lippen ihrem Mund – »Marie? Marie, wo bist du?«

   »Meine Mutter!«

   Die Rufe kamen immer näher; sicher würde die Siegerehrung gleich losgehen, und sie sollte dabei sein. Hastig sprang Marie auf und brachte ihre Kleidung in Ordnung.

   »Sehen wir uns morgen?« Alexanders Stimme klang überraschend ruhig für den Gefühlsaufruhr, in dem sie sich befand.

   »Gern.«

   »Ich ruf dich an. Halt dir den Tag frei!«

   »Meine Nummer …«

   »Hab ich längst«, fiel ihr Alexander ins Wort und hauchte ihr einen weiteren heißen Kuss auf die Handinnenfläche.

   Sie lief mit pochendem Herzen davon, während sie ihre Frisur sortierte.


Verbindung zum Jenseits

   Marie saß mit ihren Eltern beim Frühstück, als Alexander anrief.

   »Hast du eine Jeans und eine Lederjacke?«

   »Natürlich.«

   »Gut, und pack noch einen Bikini ein, ich habe eine Überraschung für dich. Um 11 Uhr hole ich dich ab. Du bist doch nicht ängstlich, oder?«

   »Ich kenne keine Angst.«

   »Wir werden sehen.« Damit legte er auf.

   Marie zog sich Jeans und T-Shirt an, packte einen Bikini samt Handtuch in eine kleine Tasche und war kaum fertig, als Alexander schon vor der Tür stand.

   Lächelnd begrüßte er sie mit einem Kuss auf die Wange. Er trug ebenfalls Jeans und Lederjacke, was sehr sexy an ihm wirkte. Hinter ihm stand eine Harley. Er reichte ihr Helm und Nierengurt, nahm ihr die kleine Tasche ab und verstaute sie im Gepäckfach. Dann startete er das Motorrad und ließ sie aufsitzen.

   »Magst du Austern?«

   Ihr »Hm« ging im Blubbern des Motors unter, und Marie beeilte sich, sich festzuklammern, denn er schien ans Ziel fliegen zu wollen. Er überquerte mehrere Ampeln kurz vor dem Umschalten auf Rot, legte sich weit in die Kurven und fuhr manchmal dichter auf das vorausfahrende Auto auf, als ihr lieb war. Er überholte einen Autofahrer und bremste direkt vor ihm abrupt ab. Der andere hupte wütend. Nach dem zweiten waghalsigen Überholmanöver schloss Marie die Augen und genoss lieber den Fahrtwind und den herbsüßen Duft nach Bitterorange, der von Alexander ausging.

   Es mochte eine Stunde gewesen sein, die in rasender Fahrt an ihr vorbeiflog, bis sie an einem See ankamen. Die Wasseroberfläche glitzerte in der Sonne, das Gras war frisch gemäht und roch angenehm. Ein paar Enten und Schwäne schwammen im Wasser, aber kein Mensch war zu sehen.

   »Wo sind wir? Ich kenne den See gar nicht.«

   »Gefällt es dir? Ich liebe diesen Platz. Den Blick, den See, die Abgeschiedenheit.«

   »Es ist wunderschön hier, ich kann dich gut verstehen.«

   Alexander breitete eine Picknickdecke aus und stellte allerlei Köstlichkeiten darauf. »Hattest du Angst?«

   »Ich dachte, du willst uns umbringen, aber als ich die Augen schloss, ging es.«

   »Das ist gut.«

   »Was ist gut?«

   »Dass du dich fallen lassen kannst.«

   »Was meinst du damit?«

   »Genug gefragt. Zieh dich um und komm auf die Decke. Ich habe Hunger!« Er reichte Marie die Tasche und zeigte auf ein kleines Häuschen hinter ihr.

   Als sie einen Moment später im Bikini zurückkam, saß er in Shorts da und hatte eine Weißwein-Flasche geöffnet. Alexander hatte die Figur eines Athleten, definierte Muskeln, aber nicht zu viel. Er gefiel ihr, das konnte sie nicht leugnen.

   Und auch Alexander ließ seinen Blick über ihren schlanken, gebräunten Körper wandern. Er reichte ihr ein Glas und eine Auster, spritze noch etwas Zitronensaft darauf und nickte ihr auffordernd zu.

   Marie ließ das weiche Fleisch in ihren Mund gleiten. Hm, schmeckte nach Meer und salziger Luft. Sie schloss die Augen und erinnerte sich an das letzte Mal, als sie am Meer eine Auster geschlürft hatte. Es war auf jeden Fall viel zu lange her. Als sie die Augen öffnete, bemerkte sie, dass Alexander sie genau beobachtete.

   »Erzähl mir von dir! Was sind deine Pläne –« Er hielt inne. »Was hast du eigentlich studiert?«

   Nach einem Schluck vom eiskalten Wein fing sie an zu sprechen: »Ich habe Kunstgeschichte und Ägyptologie studiert und möchte mich noch weiterbilden, vor allem in Richtung Kunstraub. Speziell der Raub der Nofretete-Büste interessiert mich.«

   Alexander pfiff durch die Zähne. »Schön wie die Mutter und klug wie der Vater.«

   »Du irrst dich, meine Mutter ist nicht nur schön. Durch sie kam ich erst auf die Ägyptologie. Als Archäologin hat sie schon an einigen Ausgrabungen in Ägypten teilgenommen. Sie hat mich immer bestärkt, in die Richtung zu gehen. Meine Eltern und ich haben jahrelang in Ägypten gelebt. Sie war bei den Ausgrabungen, und mein Vater hat von dort seine Firma geleitet. Ich habe meine Mutter als Kind oft begleitet, und damals schon hat sich ihre Faszination auf mich übertragen. Du kannst dir denken, wie die Araber mich kleines, blondes Mädchen bewundert und verwöhnt haben, wo auch immer ich auftauchte.«

   »Das kann ich mir lebhaft vorstellen«, lächelte Alexander sie an, während er mit einer ihrer Locken spielte.

    Marie genoss seine Nähe, die Berührung und sein Interesse. Eifrig fuhr sie fort zu erzählen, schwelgte in den Erinnerungen an ihre Kindheit in der Fremde. »In unserer Nachbarschaft gab es ein kleines Souvenirgeschäft. Hasan hieß der Inhaber. Wann immer wir dort vorbeiliefen, erzählte er mir von der    schönsten Frau der Welt und dass alles gut werden würde, wenn die Büste der Nofretete erst wieder in ihrem Land wäre. Irgendwie hat mich das geprägt, und jetzt will ich mithelfen, dass dies eines Tages geschieht!« Sie blickte in die Ferne, als malte sie sich die Szene aus, wenn sie selbst die Büste übergeben würde, lächelte, dann wurde sie ein wenig wehmütig.

   »Als ich in die Schule kam, haben wir Ägypten verlassen. Aber eines Tages bin ich zurückgekehrt und habe, diesmal als Erwachsene, an einer Ausgrabung teilgenommen!«

    »Dann haben wir drei ja etwas gemeinsam. Wir haben alle mit Gräbern zu tun.«

   »Wie das?«

   »Ich fertige Grabsteine.«

   Marie lachte laut auf, während sie ein Baguettestück in die Soße tunkte. Dieser Mann war wirklich erstaunlich!

   Alexander füllte ihr Glas auf und sprach weiter. »Kein Scherz, ich meißele Grabsteine. Das ist ein Hobby von mir. Natürlich leite ich die Firma meines Vaters und habe auch eine eigene kleine Firma in London, aber meine wahre Leidenschaft …« Er hielt kurz inne, bevor er weitersprach. »… sind die Grabsteine.«

   »Willst du mir Angst machen?«

   »Vielleicht solltest du die haben«, antwortete Alexander geheimnisvoll, dann wechselte er den Tonfall: »Bist du satt?«

   Noch bevor Marie antworten konnte, nahm er ihr Glas und Brot aus der Hand und zog sie neben sich auf die Decke. Er strich mit zarter Bewegung über ihr Bein, bis er die Tätowierung am Fußknöchel entdeckte.

   Die Spur, die er zog, hinterließ eine Gänsehaut auf Maries Bein; ihre feinen Härchen stellten sich auf.

   Alexander schien die Reaktion zu genießen und sprach mit rauchiger Stimme weiter: »Du bist tätowiert. Ich kenne das Zeichen, aber was bedeutet es?«

   »Das ist das Anch-Kreuz, es kommt aus Ägypten. Unter anderem steht es für das körperliche Leben, aber auch für die Verbindung zwischen dem diesseitigen Leben und dem Jenseits.«

   »Die Nahtstelle zwischen dem Diesseits und dem Jenseits sehe ich auch in meinen Grabsteinen. Wieder etwas, was wir gemeinsam haben. Warum hast du das Symbol gewählt?« Erst schaute er sie aus seinen Wolfsaugen an, dann küsste er sie sanft auf den Knöchel, fuhr die Konturen des Anch-Kreuzes mit seinen Lippen nach.

   Marie atmete tief ein, um ihr aufgeregt klopfendes Herz zu besänftigen. Wie konnte ihn das so kaltlassen, während sie beinahe einen Kollaps bekam? Sie bemühte sich um Fassung, obwohl sie alles andere als das wollte. Sie wollte geküsst werden von diesem Mann, doch sie sprach … »Das alte Ägypten, die Symbole, die Tempel und Pharaonen haben mich schon immer fasziniert. Als ich das Symbol das erste Mal gesehen habe, wusste ich, dass ich es immer auf meiner Haut haben möchte. Für mich bedeutet es zudem ›ewige Freude‹.«

   Er schien genug gefragt zu haben, streckte sich neben ihr aus. Marie spürte die Hitze, die von seinem Körper ausging. Er lag ganz dicht bei ihr, berührte sie aber nicht. Gemeinsam schauten sie eine Weile schweigend in den Himmel. Was mochte ihm durch den Kopf gehen? Warum küsste er sie nicht?

   Ein leichter Schauer ließ sie frösteln. Alexander legte seine Jacke über sie; seine Wolfsaugen betrachteten sie nachdenklich, während er mit einer ihrer Locken spielte, die er hinter ihr Ohr steckte. Er zog ihre Lippenform mit dem Finger nach und dann, endlich, küsste er sie. Nur ganz kurz berührte er ihre Lippen, ließ sofort wieder ab von ihr.

   Marie streckte sich ihm entgegen, atmete seinen männlichen Duft ein. Sie fühlte sich seltsam angezogen von diesem Mann, der stark wirkte und zugleich sanft. Ein Rätsel umgab ihn, und sie liebte Rätsel. Sie vibrierte vor gespannter Erwartung. Wenn er doch nur – Doch Alexander legte sich wieder auf die Decke zurück. Ihr schien es, als würde er sich selbst zwingen, damit aufzuhören. Marie seufzte enttäuscht.

   »Du wirst mir gefährlich, meine Liebe! Deine Tigeraugen locken, und ich weiß nicht, ob ich ihnen widerstehen kann.«

   »Warum willst du das denn?«

   »Es wäre sicher besser für uns.«

   »Inwiefern?«

   »Magst du die Dunkelheit? Kannst du dich fallen lassen?«

   »Natürlich!«

   »Das werden wir ja sehen.« Abrupt stand Alexander auf und packte die Sachen zusammen.

   Marie blinzelte in die Abendsonne. Was war denn das jetzt für ein Übergang? »Haben wir es eilig?«

   »Ich muss noch ein paar Geschäfte tätigen. Aber das kleine Haus gehört einem Freund von mir. Wir können also jederzeit wieder herkommen.«

   Marie war enttäuscht. Ein einziger Kuss. Sie zog ihre Sachen über den Bikini und rätselte über den plötzlichen Aufbruch. Hatte sie etwas Falsches gesagt?

   Die Heimfahrt war viel gemächlicher, fast so, als hätte Alexander nun Gewissheit auf drängende Fragen bekommen, die ihm vorher auf der Seele brannten. Marie beschloss, nicht weiter zu grübeln, sondern die Heimfahrt zu genießen.

   Über eine Stunde später kamen sie bei ihrem Elternhaus an.

   »Den Helm und den Gurt kannst du behalten. Das ist ein Geschenk. Wir fahren sicher noch häufiger zusammen Motorrad. Ich melde mich bei dir! Aber erst gegen Ende der Woche, ich muss ein paar Tage nach London wegen meiner Firma.« Er küsste sie leicht auf den Mund und ließ sie wieder einmal verdutzt stehen.

   Eine üble Angewohnheit, dachte Marie, als sie ins Haus ging.


Leos Geburtstag

   Schon seit dem Vormittag half Marie ihrer Freundin, Kuchen zu backen und die Wohnung mit Luftballons zu dekorieren. Das Geburtstagskind spürte wohl, dass heute ein ganz besonderer Tag war, denn es wollte partout nicht einschlafen. Ohne Mittagsschlaf würde Leo die Party aber nie ohne Quengeleien überstehen, also schlug Charlotte irgendwann vor, einen Spaziergang zu machen. Das half meistens.

    Marie freute sich über diesen Vorschlag. Es war herrlich mild, und der goldene Oktober machte seinem Namen alle Ehre. Die Blätter leuchteten in allen Herbstfarben, und Marie sog tief die frische Luft auf dem Waldweg ein, der gleich hinter Charlies Haus begann.

   Nachdem sie ein paar Schritte gelaufen waren, schlief Leo tatsächlich augenblicklich ein.

   Charlie grinste zufrieden. »Der kleine Racker hält mich immer auf Trab, aber kaum wird er in seinem Buggy geschaukelt, schläft er wie das unschuldigste Engelchen! Apropos, du erzählst heute gar nichts von dem gut aussehenden Alexander. Hat er sich eigentlich gemeldet?«

    »Wir haben eine Motorradausfahrt an den See gemacht, und er hat mich geküsst.«

   »Wie bitte? Wann ist das denn alles passiert? Und wo hast du ihn überhaupt getroffen?«

   »Er war beim Golfturnier, wir haben uns verabredet, waren am See, und er hat mich geküsst.« Irgendwie hatte Marie keine Lust, von Alexander zu erzählen. Normalerweise sprach sie mit ihrer Freundin über alles, erst recht über Männer, aber bei Alexander hatte sie komischerweise das Bedürfnis, alles für sich zu behalten. Vielleicht, weil er ihr selbst zu rätselhaft war?

   Charlotte spürte Maries Unwillen, über den Mann zu sprechen. Das war ungewöhnlich. Marie war es wohl sehr ernst mit ihm. Oder hatte sie selbst ihre Zweifel? Alexander war zu schön, und vielleicht meinte er es nicht ehrlich mit ihr. Ob das gut ging … Der Mann schien ihr nicht der Richtige für Marie zu sein, doch sie sagte lieber nichts dazu. Irgendwann wollte sie auf jeden Fall mehr über ihn erfahren, aber heute ließ sie ihre Freundin in Ruhe. Gespielt unbekümmert rief sie aus: »Ach, du liebe Güte, wir müssen umkehren, sonst kommen Leos kleine Gäste noch vor uns an!«

   Marie merkte wohl, dass ihre Freundin ihr zuliebe ihre Neugier bezähmte, aber sie ging auf ihren ungezwungenen Ton ein. Sie beschleunigten ihre Schritte und liefen zurück zum Haus.

   Schon kurze Zeit später kamen tatsächlich die ersten Gäste – alles Mütter mit Kindern aus der Krabbelgruppe, zu der Charlotte seit der Geburt von Leo ging, und Marie begann sich ein wenig zu langweilen. Ihre Gedanken schweiften häufiger zu Alexander, als sie es zulassen wollte. Noch immer hatte er sich nicht gemeldet, und sie gefiel sich gar nicht in der Rolle des wartenden Mauerblümchens. Trotzig holte sie eine Flasche Sekt aus dem Kühlschrank und reichte den begeisterten Müttern die Gläser. Auch sich selbst schenkte sie großzügig ein.

   Nach dem ersten Glas blickte Marie wesentlich unbekümmerter ins Leben. Der Alkohol löste die Stimmung, die Gespräche drehten sich nun nicht mehr ausschließlich ums Zahnen und Laufenlernen. Marie hörte interessiert zu, als die Frauen von den Veränderungen in ihrer Partnerschaft berichteten, lachte mit ihnen über die faulen Ausreden der Männer, wenn es ans Windelwechseln ging, und nach einem doch noch sehr vergnüglichen Nachmittag verabschiedete sie sich als Letzte von Charlie und dem auf ihrem Arm schlafenden Leo.

   »Du weißt, dass du jederzeit kommen kannst, wenn du reden möchtest, Marie?«

   »Klar, aber im Moment gibt es wirklich nicht viel zu sagen!«

   »Versprich mir trotzdem, dich zu melden, ja? Du warst so lange fort, ich will meine beste Freundin nicht gleich wieder verlieren an irgendein Geheimnis!«

   »Versprochen!«

   Marie küsste ihre Freundin lachend auf die Wange und schnupperte noch ein letztes Mal Leos Babyduft, bevor sie die Tür hinter sich zuzog.


Haus am See

   Alexanders langes Schweigen zerrte an Maries Nerven. Kein gutes Zeichen, wenn ein Mann sich nicht meldet, dachte sie.

   Vor dem Einschlafen starrte sie noch lange ins Leere und spürte ihrer Sehnsucht nach. Alexander hatte etwas in ihr geweckt, von dem sie gar nicht wusste, dass es in ihr schlief.

   Als am nächsten Tag das Telefon klingelte, durchfuhr sie ein freudiger Schreck, der sie bis in die Fingerspitzen elektrisierte. Alexanders raue Stimme ließ ihre Beine weich werden.

   »Hast du am Freitag schon etwas vor? Ich würde dich gern zu einer weiteren Motorradfahrt abholen.«

   Ohne zu zögern, sagte Marie zu und legte auf. Dann stieß sie einen kleinen Freudenschrei aus. Er hatte sie also doch nicht abgeschrieben! Freitag – aber bis dahin waren es ja noch vier ganze Tage!

   Marie langweilte sich. Charlie hatte mit Leo und ihren Auftragsarbeiten so viel zu tun, dass sie kaum mal zum Telefonieren kamen, und sie selbst befand sich in einem merkwürdigen Übergang zwischen abgeschlossenem Studium und einer neuen Herausforderung. Sie wusste noch nicht, wohin genau ihr Weg gehen würde, also genoss sie die spätsommerlichen Sonnenstrahlen auf der Terrasse und zählte die vergehenden Minuten. Dabei träumte sie von Alexander und bekam schon Herzklopfen, wenn sie an seinen herb-fruchtigen Geruch dachte, seine hellen Augen vor sich sah.

 ***

   Endlich war es Freitag, Alexander stand pünktlich vor der Tür und zeigte wieder dieses unverschämt selbstbewusste Grinsen. Sie konnte es ihm nicht verdenken. Er sah einfach zu sexy aus.

   Mit einem flüchtigen Kuss auf die Lippen begrüßte er sie und warf einen Blick über ihre Schulter in die Diele, wo Maries vor Stunden gepackte Tasche stand. »Ich werde das mal schnell verstauen, denn das Wetter könnte umschlagen, und ich will möglichst viel Zeit mit dir am See verbringen.«

   Marie strahlte.

   Die Fahrt zu dem kleinen Haus am See verlief wie das letzte Mal: schnell, gefährlich, unberechenbar. Doch Marie schloss die Augen, gewöhnte sich daran, ihm die Führung zu überlassen, ihm zu vertrauen, schmiegte sich an ihn und fühlte sich wohl.

   »Das sieht nicht gut aus, es geht doch früher los, als ich dachte«, sagte Alexander mit Blick auf die dunklen Wolken am Himmel.

   Und tatsächlich, kaum hatten sie ihre Picknickdecke ausgebreitet, begann es zu regnen. Blitz folgte auf Donner in kurzem Abstand.

   »Schnell, nimm deine Sachen, ich bringe den Rest, wir gehen ins Haus.«

   Eilig suchte Marie ihre Kleidung zusammen, währenddessen Alexander die Decke und das Essen einpackte. Sie rannten ins Haus, doch schon auf den wenigen Metern wurden sie komplett durchnässt. Aus Maries Haaren lief der Regen herunter.

   Kaum waren sie in der Hütte, lief Alexander wieder zur Tür.

   »Wo willst du denn hin?«

   »Mein Motorrad! Ich stelle es in die Garage.«

   »Beeil dich!«

   Es roch muffig. Letztes Mal hatte Marie es nicht bemerkt, war an dem Tag nur schnell hinein- und wieder hinausgehuscht, um sich umzuziehen. Sie öffnete die Fensterläden, ließ Licht herein, doch vom Wind wurden sie wieder zugedrückt. Ein kurzer, heftiger Luftzug fegte durch den Raum und wirbelte jede Menge Staub auf. Wo blieb Alexander nur? Marie breitete die Sandwiches und den Wein auf dem Küchentisch aus, zündete ein paar der herumstehenden Kerzen an.

   Da kam Alexander zur Tür herein, klatschnass. Sein Blick umfing die vom flackernden Licht erhellte Tafel. »Das sieht gemütlich aus. Ich habe einen Riesenhunger!«

   Marie betrachtete ihn, wie er so dastand. Das Hemd klebte an seinem Oberkörper, die nassen Haare hatte er aus dem Gesicht gestrichen, die Augen leuchteten.

   »Zuerst musst du dich ausziehen, du wirst sonst krank«, flüsterte sie und machte drei Schritte auf ihn zu. Wie von selbst fanden ihre Finger den Weg zu den Knöpfen seines Hemdes. Stück für Stück schälte sie ihn aus der Hülle, bedeckte dabei seinen Oberkörper mit Küssen. Wenn er nicht wollte, musste eben sie den Anfang machen!

   »Wenn du so weitermachst, kann ich nicht stoppen!« Alexander stöhnte auf, legte seinen Kopf zurück, genoss die Küsse.

  »Wer sagt, dass du stoppen sollst«, flüsterte Marie heiser vor Erregung und knabberte ganz leicht an der pulsierenden Ader an seinem Hals.

   Er beugte sich zu ihr herunter, küsste sie leidenschaftlich auf die lockenden Lippen. Dann knöpfte er ihre Bluse auf, streifte ihr den nassen Stoff von den Schultern und ließ ihn achtlos zu Boden fallen. Als sei sie eine Feder, hob er Marie hoch und trug sie ins Schlafzimmer, legte sie aufs Bett.

   Marie erzitterte, als sie seine kühle, glatte Brust an ihrer Haut spürte.

   Sie entledigten sich hastig des Rests ihrer Kleidung, lagen schließlich nackt nebeneinander, hielten kurz inne.

   »Wie schön du bist …«, murmelte Alexander, während er ihren Nacken liebkoste.

   Für einen Moment, wie um das Gesagte zu untermalen, erhellte ein Blitz das ganze Zimmer. Marie erschrak.

   »Pst, ich bin bei dir.« Alexander küsste ihren Bauchnabel, berührte sie mit den Händen überall gleichzeitig, strich mit den Lippen ihr Schlüsselbein nach und zog eine heiße Spur in Richtung ihres Unterleibes.

   Marie stöhnte vor Lust und unbändigem Verlangen. »Nicht aufhören, bitte!« Sie kannte ihn erst seit ein paar Wochen, doch ihre Gier war so groß, als hätte sie Jahre auf diese Vereinigung gewartet. Sie beugte sich ihm entgegen.

   Endlich legte er sich auf sie und drang in sie ein. Seine Stöße waren hart und fordernd, ganz anders als die zärtlichen Begegnungen, die sie bisher gekannt hatte. Marie wand sich in nie gekannter Ekstase, spürte, hier hatte sie ihren Meister gefunden. Stöhnend hielt sie die Luft an, wollte ihn so sehr, dass sie es kaum noch aushielt, dann ergab sie sich ihrer Lust …

   Einige Zeit lagen sie keuchend nebeneinander, bis sie wieder zu Atem kamen. Alexander küsste sie zart auf die Lippen, schaute sie fragend an.

   Marie konnte seinen Ausdruck nicht deuten. Seine Augen glitzerten geheimnisvoll. »Was denkst du?«, fragte sie.

   »Ich überlege gerade, ob du vielleicht … Ach nichts. Es ist noch nicht der richtige Zeitpunkt. Eines Tages wirst du verstehen.«

   »Wofür der richtige Zeitpunkt?«

   Er schloss träge die Lider. Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel, das ihr Gänsehaut verursachte. »Es gibt da spezielle Feste. Ich glaube, sie könnten dir gefallen. Aber jetzt frag nicht weiter«, beschied er sie.

   Marie wollte mehr wissen, fragte noch einmal, aber Alexander schwieg, ging nicht mehr darauf ein. Das machte sie wahnsinnig, aber den Gefallen wollte sie ihm nicht tun, ihn anzubetteln. Gespielt gleichgültig rekelte sie sich und sah nach draußen. »Es hat aufgehört zu regnen.« Marie lief zum Fenster.

   Und tatsächlich, die Sonne schien, das nasse Gras glänzte lockend, wie von Kristallen bedeckt.

   »Komm, wir gehen schwimmen!« Sie zog Alexander aus dem Bett.

   Lachend liefen sie zum See, nackt, wie sie waren, sprangen hinein, tauchten unter und neckten sich, bis die scherzhafte Stimmung erneut der Begierde wich. Atemlose Küsse auf der noch nassen und in der Sonne dampfenden Wiese – sie machten da weiter, wo sie gerade erst aufgehört hatten.

   »Du bist unglaublich!«, stöhnte Alexander erschöpft, als er neben ihr auf das Gras sank.

   Später saßen sie Arm in Arm und beobachteten den Sonnenuntergang, bis Marie erschauerte.

   »Dir ist kalt. Ich bringe dich heim.« Er sah Maries enttäuschte Miene und blickte sie ernst an. »Wir kommen wieder her, das verspreche ich dir!«

   Die Rückfahrt war ungemütlich, denn die Luft hatte sich merklich abgekühlt. Marie schmiegte sich ganz eng an Alexander. Immer wieder ließ er für einen kurzen Moment seine Hand auf ihrem Schenkel ruhen, bevor er sie zurück an den Lenker nahm. Marie fühlte sich ihm nah und störte sich nicht mehr an der kalten Luft.

   Vor der elterlichen Tür nahm er seinen Helm ab, schaute sie mit verlangendem Blick an. »Wärst du bereit, mir in die Dunkelheit zu folgen?«

   Sie schüttelte ihre honigfarbenen Locken aus. »Was meinst du?«

   »Vertraust du mir?«

   »Ja.«

   »Dann lass dich überraschen!«

   Er fuhr davon, der Motor knatterte zum Abschied, und sie konnte noch eine Weile sein Rücklicht auf der Straße erkennen. Immer diese Andeutungen! Marie ging ins Haus, keinen Deut schlauer als zuvor.


Maskenfest

   Eine Woche später rief Alexander das nächste Mal an. Marie hatte schon ungeduldig darauf gewartet. Da er während der Woche meist in London war, konnte sie ihn nicht erreichen, musste darauf warten, dass er sich meldete, wann er wollte. Marie empfand eine merkwürdige Passivität und Abhängigkeit, die ihr in manchen Momenten Angst machte, aber sie unternahm nichts dagegen.

   »Hast du an mich gedacht?«

   »Ich denke an nichts anderes«, antwortete sie und spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte.

   »Und wirst du mir folgen, wohin auch immer ich gehen werde?«

   Sie schluckte. »Ja.« Ihre Stimme war nur ein Flüstern.

   »Sag es lauter«, insistierte er.

   »Ja.«

   »Wir werden sehen. Ich hole dich um acht Uhr ab. Zieh das rote Kleid an, es steht dir wunderbar.« Seine heisere Stimme schickte ihr eine Gänsehaut über den ganzen Körper.

   Mit klopfendem Herzen und voller banger Aufregung konnte Marie sich auf nichts konzentrieren und verbummelte den Tag, bis es endlich Zeit wurde, sich anzukleiden. Obwohl sie viel Zeit eingeplant hatte, war sie wie immer doch erst in letzter Minute fertig, und der Klang der Türglocke ließ sie so erschreckt zusammenfahren, dass sie ihre Lippen mit einem Strich grotesk übermalte. Während sie ärgerlich von Neuem begann, ließen ihre Eltern Alexander ein. Die Klänge ihrer höflichen Unterhaltung drangen gedämpft durch die Tür. Schließlich war Marie mit ihrem Aussehen zufrieden und ging in den Salon, um sich Alexander zu präsentieren. Er trug wieder den Smoking und sah fabelhaft aus. Ihre Eltern wünschten dem jungen Paar einen schönen Abend.

   Draußen betrachtete Alexander wortlos ihr Kleid. Ganz kurz strich seine Hand ihren Rücken hinab, sonst berührte er sie nicht. Schon dieser kurze Moment versetzte sie wieder in Erregung.

   Sie fuhren etwa eine halbe Stunde in Alexanders Limousine, bis sie vor einem kleinen, verwitterten Haus hielten, das in einer kaum befahrenen Straße stand. Nur wenige der Straßenlaternen brannten, und auch sonst machte die Gegend keinen vertrauenerweckenden Eindruck auf Marie.

   »Was wollen wir hier?«, fragte sie erstaunt. »Dafür sollte ich mich schick machen? Bist du sicher, dass die Adresse richtig ist?«

   Alexander gab ihr mit einem Nicken zu verstehen, dass sie aussteigen solle. Er wirkte angespannt.

   Jetzt entdeckte Marie am Straßenrand, in seltsamem Kontrast zu der armseligen Gegend und dem verfallenen Zustand des Hauses, edle Luxuslimousinen – Porsche, Jaguar und andere Sportwagen. Ein Paar – sie im eleganten schwarzen Abendkleid, er im Smoking – lief Hand in Hand zum Eingang. Marie konnte ihre Gesichter nicht sehen, aber an ihrem Gang und der entschlossenen Haltung erkannte sie, dass sie wussten, was sie erwartete.

   »Wie weit wirst du gehen?«, wiederholte Alexander die Frage vom See.

   »So weit du willst«, antwortete Marie kühner, als sie empfand.

  »Du wirst den Abend nicht vergessen«, flüsterte ihr Alexander ins Ohr, als er eine schwarzgoldene Maske mit einer einzelnen schwarzen Feder aus seiner Tasche holte und sie ihr aufsetzte.

   Dann streifte er sich selbst eine schwarze Maske über, die seine Augen umrahmte und nur wenig vom Gesicht sehen ließ, und klingelte.

   In diesem Moment ahnte Marie, dass es sich hierbei um eines der legendären geheimen Maskenfeste handeln musste, von denen sie hatte munkeln hören. Ein Prickeln überlief sie. Sie wusste nicht, ob aus Angst oder aus Neugier. Gerüchten zufolge wurden diese Veranstaltungen immer an verschiedenen Orten abgehalten, und man erzählte sich von Orgien, Drogen, heimlichen Treffen Prominenter. Sie dachte, die Feste fanden nur in Großstädten statt, Metropolen, nicht in ihrem beschaulichen Baden-Baden. Die Aufregung ließ sie heftig schlucken. Das Frösteln, das Marie verspürte, kam nicht vom kühlen Abendwind …

   Ein elegant gekleideter Mann, der ebenfalls eine Maske trug, öffnete ihnen und nickte Alexander zu. Die von Alexander gereichten Eintrittskarten nahm er wortlos entgegen. Dann hielt er ihm auf einer silbernen Schale einen elegant beschriebenen Papierbogen hin. Alexander unterzeichnete mit Blick auf Marie, die unbehaglich um sich sah.

   Er nahm ihre Hand, und sie traten ein. Von allen Seiten wandten sich ihnen Köpfe zu. Marie wagte kaum, den Blick zu heben. Was, wenn jemand sie erkannte? Doch dann siegte die Neugier. Die Frauen strahlten in festlichen Abendkleidern, die Männer trugen Smoking. Alexander schienen sie zu kennen, wie Marie den nickenden Köpfen entnahm. Sie selbst aber wurde neugierig gemustert. Marie fühlte sich unter den verhüllten Blicken wie auf dem Präsentierteller.

   Endlich nahm das Spießrutenlaufen ein Ende, als ein Diener sie zu einem Tisch führte, an dem bereits ein weiteres Paar mit Masken saß. Obwohl die Einrichtung des Hauses sehr schlicht gehalten war, hoben die festlich gedeckten Tische und die elegant gekleideten Menschen diesen Eindruck wieder auf. Die allenthalben in prachtvollen Leuchtern brennenden Kerzen taten ihr Übriges. Auf einer Empore stand ein Klavier, an dem ein ebenfalls im Smoking gekleideter Mann klassische Melodien spielte. Er und das Personal trugen als Einzige keine Masken.

Die Kellnerinnen trugen großzügig ausgeschnittene Blusen und kurze Röcke, was die prickelnde Atmosphäre verstärkte. Während das vielgängige Menü von den verführerischen Frauen aufgetragen wurde – nach dem fünften Gang verlor Marie den Überblick, hatte auch keinen Hunger mehr und probierte nur kleine Bissen – sprach niemand. Auf einer kleinen Bühne bewegten sich nur mit Masken und hauchdünnen Stoffen bekleidete Tänzerinnen zu den Klaviermelodien. Die Luft war erotisch aufgeladen.

   Marie war unbehaglich zumute. Ob es der anderen Frau am Tisch genauso ging wie ihr? Sie spürte ihren Herzschlag bis in die Kehle.

   Nach dem Essen blickte der Pianist in ihre Richtung und begann, ihr Lied zu spielen. Marie schaute erstaunt zu Alexander, der ihr lächelnd zuprostete.

   »Woher kennst du dieses Lied?«

   »Du hast es doch gespielt, auf eurer Soiree.« Bei diesen Worten zog Alexander sie an sich und küsste sie lange, während seine Hand ihren Rücken hinunterwanderte.

   Marie reagierte mit allen Sinnen auf diesen Kuss. Seit ihrem letzten Ausflug, ihrer leidenschaftlichen Vereinigung, sehnte sie sich nach ihm, konnte an nichts anderes mehr denken. Als sie voneinander ließen, schaute sie sich verstohlen um, aber niemand schien Notiz von ihnen beiden zu nehmen.

   Der Pianist hörte auf zu spielen. Aufgeregtes Getuschel setzte ein. Die Gäste standen auf, zuerst noch etwas ziellos, dann verließen die meisten den Speisesaal.

   Marie rätselte, was nun geschehen würde, als Alexander ihre Hand nahm. »Komm. Es geht los. Zeig mir, dass du dich traust.«

   Das Licht ging aus. Alexander zog Marie mit sich, und sie folgte ihm, unsicher durch die Dunkelheit tastend. War sie bereit, sich ganz dem Unbekannten hinzugeben? Doch kaum hatte sie sich ein wenig an das Dunkel gewöhnt, ging das Licht wieder an. Verwirrt blinzelte sie.

   Vereinzelt hatten sich Paare in enger Umschlingung gefunden, die nun verlegen auseinanderrückten und sich irritiert umsahen.

   »He, was soll das?«, fragte jemand.

   Marie sah zur Tür. Dort stand ›Brad‹ von der Soiree. Was tat er hier? Warum tauchte er hier auf? Sein Blick war so wild, ein seltsamer Gegensatz zu seinem fein modellierten Gesicht, stellte sie fest. Hatte er den Ablauf des Festes gestört?

   Er trat direkt auf Alexander zu und zischte: »Wieder in dem Sündenpfuhl?«

   Die Anwesenden waren sprachlos und wie paralysiert. Marie sah zu Alexander. Seine Augen hinter der Maske waren zu schmalen Schlitzen verengt. So ähnelte er noch mehr einem Wolf.

   Alexander schob den jungen Mann aus dem Zimmer, ließ die Tür aber angelehnt. Als Marie den beiden nachging, konnte sie hören, wie sie sich aufgeregt unterhielten. Alexander flüsterte, aber die Antworten des anderen drangen bisweilen klar an ihr Ohr.

   »… Schwester … zerstört … Mann!« Dann, laut und deutlich: »Ich werde alles erzählen, was hier passiert und wer teilnimmt!«

   »Du und deine verdammte Schwester! Verschwindet endlich aus meinem Leben!«, zischte Alexander, nun deutlich hörbar, bevor er die Tür zuschlug.

   Bei seiner Rückkehr wirkte Alexander verärgert. Er rückte seine Fliege zurecht und strich sich übers Revers, als müsse er Schmutz abschütteln, den der junge Mann mitgebracht hatte.

   Marie schaute ihn fragend an. »Was …?«

   Er ließ sie nicht zu Wort kommen. »Vergiss ihn. Wir gehen!«, rief er und zog sie aus dem Haus.

  Kaum standen sie vor der Tür, wurde sein Wagen vorgefahren. Wie im Film, dachte Marie. Was für ein eigenartiger Abend! Alexander starrte beim Fahren grimmig auf die Straße und schwieg eisern, Marie wusste nicht, was sie von all dem halten sollte.

  »Warum …« Sie unterbrach sich und setzte noch mal an: »Wie kannst du …«

   Doch Alexander legte den Finger auf ihren Mund. »Eines Tages wirst du verstehen, glaub mir.«

   Sie schwieg ergeben.

   Kurz bevor sie ankamen, versuchte sie noch einmal, das Gespräch auf den rätselhaften Fremden zu bringen. Sie konnte sich aus den paar Fetzen, die sie verstanden hatte, kaum einen Reim machen. Diesmal würde sie sich nicht mundtot machen lassen. »Was hat es mit diesem Mann und seiner Schwester auf sich? Und was sollte dort in dem Haus geschehen, warum sind wir schon gegangen? Sprich doch endlich mit mir. Ich möchte verstehen. Auch, was du in London tust. Warum bist du immer so geheimnisvoll?«

   Mit allem hätte sie gerechnet, aber nicht mit einer solchen Reaktion. Alexander bremste abrupt und herrschte sie an: »Sprich nie wieder von diesen beiden!« Er packte sie an den Schultern, schüttelte sie leicht.

   So wütend hatte sie seine Augen noch nie funkeln sehen. Sie verstand die Welt nicht mehr. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sollte sie sich so in ihm getäuscht haben? Wo war der charmante, an ihren Studien interessierte Mann, der ihr seine Jacke überlegte, wenn sie fröstelte, und sie am See voller Hingabe geliebt hatte? »Lass mich los«, sagte sie energischer, als ihr zumute war. »Was soll das?«

   »Du verstehst nicht«, begann er, um gleich darauf zu verstummen, sah sie dabei unglücklich an. Er schien in sich zusammenzusacken. Der Klammergriff löste sich.

   Erleichtert rieb Marie sich die Stellen, an denen seine Finger Abdrücke hinterlassen hatten. Sie nahm ihre Handtasche; die Wagentür warf sie hinter sich zu und entfernte sich ein paar Schritte vom Auto. Mit klopfendem Herzen wartete sie, ohne sich umzudrehen, ob er ihr hinterherkam. Doch da hörte sie den Motor wieder starten, dann war er weg. Wieder einmal ließ er sie auf der Straße stehen!

   Fassungslos lief sie die letzten Schritte in der Dunkelheit nach Hause und nahm sich fest vor, sich nicht mehr mit Alexander zu treffen, auch wenn sie mit ihm die leidenschaftlichsten Momente ihres Lebens gehabt hatte. Leidenschaft konnte auch verbrennen!

   Die Nacht verbrachte sie ruhelos; sein Ärger und der feste Griff an ihrer Schulter gingen ihr nicht aus dem Kopf. Gerade noch war er charmant und zuvorkommend, dann gefährlich und unberechenbar. Die Maskenfeste und die erotische Anziehung waren das eine, aber sein Blick machte ihr Angst. An Schlaf war nicht zu denken. Sie warf sich hin und her und gab es endlich auf, griff nach einem Buch, ohne irgendetwas vom Inhalt mitzubekommen. Den Rest der Nacht starrte sie in die Dunkelheit und versuchte sich klar zu werden, was sie für Alexander empfand.

   Als endlich der Tag anbrach, ging sie in die Küche, wo ihre Mutter bereits Kaffee trank. Marie wollte ihr zwar nichts vom unschönen Verlauf des gestrigen Abends sagen, aber ihre Nähe spüren, ihre Wärme. Doch ein Blick ihrer besorgten Mutter, und die Tränen flossen.

   »Liebes, was ist denn? Haben du und Alexander gestritten? Bist du unglücklich? Du bist so blass.«

   Marie schluchzte, aber da sie Scheu hatte, von den Festen und von den seltsamen Begegnungen mit ›Brad‹ zu sprechen, murmelte sie etwas von einem Streit. Während ihr die Mutter über das Haar strich, wurde sie allmählich ruhiger.

   »Vielleicht lasst ihr es ein bisschen langsamer angehen, Liebes. Ich sehe dich auch kaum noch.«

   »Du hast recht. Den heutigen Tag verbringen wir gemeinsam!« Dabei umarmte sie ihre Mutter stürmisch, und diese erwiderte ihre Umarmung besorgt.

   Den ganzen Tag verbrachten Mutter und Tochter in stiller Zweisamkeit, gingen spazieren, aßen Eis in ihrem Lieblingscafé im Kurpark und saßen abends noch lange mit Maries Vater im Salon, bis Marie schließlich ein wenig ruhiger geworden war und in ihr Zimmer ging.

   Aber diese Nacht war ebenso schlaflos wie die vorherige, und sie konnte sich einfach nicht klar werden, wie sie künftig auf Alexander reagieren sollte. Wenn er sich denn überhaupt noch einmal melden würde.


David

   Zunächst sah es so aus, als werde Maries bange Vorahnung sich bewahrheiten. Alexander meldete sich weder an diesem Wochenende noch an den folgenden Tagen. Sie jedenfalls würde ihn auf keinen Fall anrufen. So ließ sie sich nicht behandeln.

   Als Marie eines späten Vormittags etwa eine Woche später ziellos durch den nahe gelegenen Park spazierte, hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Unauffällig musterte sie die Umgebung. Da blieb ihr umherschweifender Blick an einer Gestalt haften. War das nicht …? Aber sicher, unverkennbar! Und der Mann kam direkt auf sie zu. Ob er sie verfolgt hatte? Er blickte sich gehetzt um, schien sich nicht ganz sicher zu sein, was er tun sollte, lief dann aber weiter in Maries Richtung.

   Schließlich stand er vor ihr und wischte sich nervös die Haarsträhnen aus der Stirn. »Sie kennen mich, ich …« Er stockte.

   »Ja?«, fragte sie interessiert. Kurz durchzuckte sie der Gedanke, wie wenig Alexander diese Begegnung gutheißen würde. Fast erwartete sie, ihn aus dem nächsten Gebüsch springen zu sehen, meinte schon, seinen festen Griff um ihren Arm zu spüren, und musste schlucken. Schließlich war ›Brad‹ immer dort aufgetaucht, wo auch Alexander war, als hielte die beiden Männer ein unsichtbares Band zusammen. Nun sah auch sie sich unruhig um.

   Der Fremde ließ sich neben sie auf die Bank fallen. »Ich bin David.«

   »Marie«, sagte sie und lächelte aufmunternd. David war aus der Nähe noch hübscher, man konnte fast schön sagen. Er hatte ungewöhnliche, herzförmig geschwungene Lippen. Die blauen Augen leuchteten voller Inbrunst, als er drängend zu ihr sprach.

   »Ich muss Sie warnen. Vor drei Jahren war meine Schwester Julia unsterblich in Alexander verliebt. Sie war gerade erst zwanzig geworden, und dieser Kerl hatte schon diese Masche drauf, die alle Frauen in ihn verliebt macht. Seine Mischung aus gutem Benehmen und Gefährlichkeit. Die reizt euch wohl alle.« Seine Mundwinkel verzogen sich zu einer Grimasse der Bitterkeit.

   Marie hielt den Atem an, wollte ihn nicht unterbrechen. Würde sie endlich erfahren, welches Geheimnis die beiden Männer verband? David zog zwei Fotos aus seiner Jacke und reichte sie ihr wortlos. Auf dem ersten konnte sie ein außerordentlich hübsches, lebenslustiges Mädchen erkennen, auf dem anderen eine noch immer unfassbar schöne Frau, deren Blick jedoch seltsam leer erschien, nach innen gerichtet. Man konnte deutlich die Ähnlichkeit zu David erkennen. Doch was ist mit ihr geschehen, um diese Wandlung hervorzurufen?, fragte Marie sich – oder kannte sie die Antwort schon?

   Als sie ihn fragend ansah, bestätigte David ihren Verdacht mit bitterer Stimme. »Sehen Sie, was aus meiner Schwester geworden ist. Alexander hat auch Julia auf diese Partys mitgeschleppt, wo sie sich namenlosen Männern hingegeben hat, nur aus Liebe zu ihm. Doch irgendwann verlor er das Interesse an ihr, und sie blieb zurück, geschändet und verdorben in ihrer Unschuld.«

   Marie schaute schuldbewusst zur Seite.

   »Meine Schwester ist so jung, und sie hatte überhaupt keinen Spaß daran. Alexander war ihr erster Mann. Ich glaube sogar, er lässt sich Geld dafür geben, diesen perversen Mistsäcken immer neue Frauen zuzuführen.« Davids Nasenflügel blähten sich vor Abscheu. »Er ist ein mieses, arrogantes Schwein. Julia lebt heute in der Psychiatrie. Meine schöne Schwester spricht kein Wort mehr.«

   Für einen Augenblick huschte ein verträumter Ausdruck über sein Gesicht, als ob er in eine schöne Vergangenheit schaute, doch im   nächsten Moment war seine Miene wieder hart und unerbittlich. Marie musste sich verguckt haben, zu schnell ging der Stimmungswechsel.

   »Und das alles wegen dieses Teufels.« Er spie ihr seine Verachtung geradezu vor die Füße.

   Marie distanzierte sich ein wenig von ihm. Das Mädchen und die gesamte Familie taten ihr zwar leid, aber ein Teufel war Alexander wirklich nicht. Wenn sie ehrlich zu sich war, hatte sie die Stimmung dieses Abends als sehr erregend empfunden. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er ein junges Mädchen zwingen würde, ihm dorthin zu folgen. Sie wollte ihn gerade verteidigen, aber David war noch nicht fertig.

   »Glauben Sie, Sie sind die Einzige, die er mitnimmt auf die Partys? Es finden ständig welche statt, überall, nicht nur hier. Und meine Schwester und unsere Familie sind nicht die Einzigen, deren Leben er mit seinen Sexspielchen zerstört hat. Glauben Sie mir.« Sein Ton war eindringlich. »Gehen Sie fort von ihm, bevor es zu spät ist. Bevor er Sie auch zerstört.« Mit diesen Worten sprang er auf und verschwand.

   Marie blieb ratlos auf der Bank zurück. Was sollte sie von alldem nur halten? Und obwohl er genügend Dinge angesprochen hatte, um ihren Verstand auf Wochen zu beschäftigen, fragte sie sich vor allem eines: Wie konnte David immer wissen, wo sie sich befand? Auf der Soiree, dem Golfplatz und jetzt im Park. Beobachtete er ihre Wohnung? Warum wollte er sie so dringend vor Alexander warnen? Sie konnte ihm doch egal sein. Etwas rührte sie an dem Mann, nur was? Sein Ernst, seine Dringlichkeit?

   Da klingelte ihr Handy. Alexander! Als hätte er es geahnt – hatte er?

   »Wo bist du?«, fragte er leise.

   »Ich wüsste nicht, warum dich das etwas angeht.«

   »Komm zu mir. Bitte. Ich erkläre dir alles.«

   »Es ist doch nicht Freitag«, antwortete sie ihm schnippischer, als ihr zumute war.

   »Bitte«, wiederholte Alexander mit weicher Stimme, und Maries Widerstand schmolz dahin.

   Sie rief ein Taxi, ließ sich zu ihm fahren. In seiner Wohnung war sie noch nie gewesen. Immer hatte er sie abgeholt und ausgeführt, aber sie kannte seine Adresse.

   Alexander öffnete ihr die Tür, und sie bemerkte sofort seinen flehenden Blick. Scheinbar ist es ihm ernst, dachte Marie erleichtert. Das vertraute Kribbeln, das sie in seiner Gegenwart immer verspürt hatte, setzte ein und zeigte ihr, dass sie noch lange nicht mit ihm fertig war, mochte sie sich in den letzten Tagen auch anderes gedacht haben. Er nahm ihre Hand und geleitete sie ins Wohnzimmer. Marie schaute sich neugierig um: Ein weißes Ledersofa nahm den Raum ein, in Wasserschalen brannten Kerzen, helle Seidenvorhänge hingen bis zum Boden. Der Raum war sehr edel eingerichtet, und aus dem Lautsprecher erklang ›ihr‹ Klavierstück. Sie atmete auf, die Anspannung verschwand.

   Als er sie ansah, war sein Blick noch immer weich. »Verzeih mir, Marie, ich habe zu heftig reagiert. Komm her.« Er zog sie zu sich heran und küsste sie zärtlich. Später erzählte er ihr dann die Geschichte, die sie schon von David gehört hatte, nur aus seiner Sicht. »Ich war einsam, das ewige Pendeln nach London machte mich müde, ich brauchte jemanden. Da kam Julia … Du musst verstehen. Davids Schwester hat mir schon einmal fast mein Leben zerstört. Sie war jung und schön, ich war dumm. Julia hatte von diesen Maskenfesten gehört, wollte unbedingt, dass wir zusammen hingingen. Anfangs genossen wir die dunkle Erotik. Doch irgendwann verselbstständigte sich das alles, entglitt mir.« Alexander machte eine Pause, schien etwas zurückzuhalten, bevor er weitersprach. »Dann hat es ihr ach so moralischer Bruder herausbekommen und den strengen Eltern verraten. Völlig hysterisch rief ihre Mutter bei meinen Eltern an. Mein Vater tobte. Mein Ruf und meine ganze Karriere standen auf dem Spiel. Dabei war sie es gewesen, die mir monatelang hinterhergelaufen ist. Sie verfolgte mich mit ihren Avancen, bis ich eines Tages nachgab. Wer weiß, was …« Er brach ab und schaute sie an.

   Marie erkannte Trauer und Verletzung in seinen Augen. »Du hast ihr Leben zerstört.«

   »Und sie und ihr verdammter Bruder meines. Wenn du alles wüsstest, würdest du verstehen.« Die letzten Worte sprach er so leise, dass Marie nicht sicher war, ob sie ihn richtig verstanden hatte. Da war er schon aufgestanden und schenkte sich ein Glas Whiskey ein. »Möchtest du auch?«

   Marie lehnte ab. Sie war verunsichert. Zu verschieden waren die Versionen, die sie gehört hatte. Sie wollte ihm gern glauben, spürte doch längst, wie sich anfängliche Zuneigung und körperliche Anziehung langsam in Liebe wandelten, aber durfte sie es zulassen? Zu rätselhaft war Alexander. Sie war ratlos. »Ich möchte heimfahren. Bestellst du mir ein Taxi?«

   »Warte.« Alexander holte ein kleines Samtkästchen und drückte es ihr in die Hand. »Wie auch immer deine Entscheidung ausfällt, das hier möchte ich dir geben. Ich habe es gestern auf einer Auktion in London gekauft.«

   Marie öffnete das Kästchen. Ein Laut der Überraschung entfuhr ihr. »Das ist unglaublich. Du musst ein Vermögen dafür bezahlt haben!«

   »Ein kleines, ja, aber du bist es wert.«

   Marie konnte den Blick nicht von der winzigen Nofretete-Büste lösen, die exakt dem berühmten Vorbild nachempfunden war. Nur bestand sie nicht aus bemaltem Kalkstein, sondern aus Platin, und das berühmte Auge war ein Diamant. »Du bist verrückt.«

   »Ja, nach dir, komm her.« Alexander zog sie an sich, küsste sie zärtlich auf den Mund und hielt sie so fest, dass sie seinen Herzschlag an ihrer Brust hörte. Er schien sie nicht mehr loslassen zu wollen. Marie sog seinen Duft tief ein.

   »Du bedeutest mir schon jetzt so viel, dass es mir Angst macht. Vielleicht habe ich doch noch eine Chance, glücklich zu werden.« Alexander hörte auf zu sprechen, küsste sie so innig, als wolle er mit seiner Seele die ihre berühren.

   Marie gab sich seinem intensiven Kuss hin, spürte die Liebe darin. Wollte sie das Dunkle und Mysteriöse um ihn hinnehmen? Sie ließ es zu, dass Alexander sie in sein Schlafzimmer führte. Ein rascher Blick – auch hier dominierten weiße Möbel, vielleicht als Gegensatz zu seiner dunklen Leidenschaft, dachte sie. Durch die aufgestellten Duftkerzen roch es berauschend nach Zimt und Vanille.

   Alexander küsste sie weiter und murmelte Liebkosungen in ihr Ohr, während er sie langsam entkleidete. Er blieb angezogen, aber bedeckte ihren Körper mit heißen Küssen, bis Marie es nicht mehr aushielt und seine Kleidung herunterzerrte.

   Leidenschaftlich liebten sie sich, bis sie in seinen Armen einschlief. Hier an seiner Seite wollte sie sein. Fort waren alle Bedenken.


Schönheit

   »Willst du meine Sammlung sehen?«, flüsterte Alexander ihr ins Ohr.

   Verschlafen rekelte sich Marie in den Kissen und sah auf die Uhr. »Sammlung?«

   »Meine Grabsteine.«

   »Jetzt? Es ist doch noch tiefe Nacht.« Ungläubig schaute Marie zu Alexander hoch.

   Er war bereits angezogen. »Die Stimmung ist zu dieser Zeit besonders schön. Danach bekommst du das beste Frühstück, das du dir vorstellen kannst.«

   Marie hätte gern noch weiter geschlafen, aber plötzlich steckte der Funke, der in Alexanders Wolfsaugen glomm, auch sie an. »Überredet«, sagte sie und sprang aus dem gemütlichen Bett. Der Mond schickte sein geheimnisvolles Licht durch die Jalousien. Die Müdigkeit machte ihre Bewegungen ungeschickt. Alexander schaute ungeduldig zu, wie sie sich anzog. Als sie endlich fertig war, reichte er ihr den Motorradhelm und eine warme Jacke.

   Gemeinsam fuhren sie durch die Nacht. Marie fühlte sich seltsam frei und lachte laut auf. Sie hatte ihre Arme um ihn geschlungen, atmete seinen Duft nach Bitterorange und genoss seine Wärme.

   Eine Weile später brachte Alexander sein Motorrad zum Stehen. Er griff ihre Hand. Marie ließ sich von ihm über kleine, verborgene Waldwege führen, während sie sich neugierig umschaute.

   Auf einer Anhöhe machte er halt. »Wir sind da.«

   Vor ihnen lagen und standen Dutzende von Grabsteinen und Skulpturen. Rauer Fels, glatt polierte Flächen, große und kleine Steine, runde, eckige, sogar Figuren. Marie lief durch die Reihen, berührte hie und da leblose Gesichter, betrachte einige ausführlicher und blieb schließlich vor einer Figur stehen, die einem Engel glich. »Und das hast du gemacht?«

   »Ich übe mich seit Jahren. Die größte Schwierigkeit ist der Anfang, herauszufinden, welche Figur in dem Stein steckt, dann geht es fast wie von selbst.«

   »Aber warum?«

   »Warum ich Grabsteine mache?« Alexander lachte amüsiert auf, dann wurde er ernst. »Stein hat mich schon immer fasziniert. Deine ägyptischen Pyramiden, die Büsten in Rom, Säulen und Skulpturen alles ist aus Stein gebaut. Grabsteine sind die Verbindung der Toten mit den Lebenden, genau wie das Anch-Kreuz auf deinem Knöchel. Ein Hauch von Ewigkeit umgibt Grabsteine, denn ist nicht der pure Stein ewig? Und auch das Körperliche gefällt mir daran, die Kraft, die man aufwenden muss. Nach den vielen Stunden im Büro und den zahllosen Flügen hin und her liebe ich diese Arbeit. Das Düstere interessiert mich sowieso.« Er zwinkerte.

   Marie bewunderte die kunstvolle Ausführung des Engels. Er strahlte Zuversicht aus und Beistand für alle, die ihn brauchten. Vielleicht hatte Alexander ihn zu seinem eigenen Schutz gemeißelt – oder als Gefährten? Sie konnte die Schönheit dieser Skulptur nicht mit Alexanders dunklen Leidenschaften in Einklang bringen, oder bedingte gerade die eine Seite an ihm die andere? Sie ahnte, jetzt war der richtige Zeitpunkt, um von den Maskenfesten zu sprechen, aber sie wollte diesen Moment der Öffnung nicht gefährden. Vielleicht war es ja damit vorbei, versuchte, sie sich selbst einzureden, ohne dabei viel Erfolg zu haben.

  »Genug geschaut. Lass uns frühstücken gehen. Ich kenne ein nettes, kleines Restaurant in der Nähe. Etoile heißt es.«

   »Stern, wie passend. Schau nur die vielen Sterne.« Marie legte den Kopf in den Nacken.

  »Gleich wird die Sonne die Dunkelheit vertreiben, dann enthüllt das unerbittliche Licht alle Geheimnisse.« Alexander gab ein eigentümliches Geräusch von sich, fast ein Schluchzen. »Bist du mein Stern aus der Dunkelheit?« Er küsste sie ungewohnt zurückhaltend.

   In diesem Moment kam die Sonne über den Hügel und löste das blasse Licht des Mondes ab. Fast ein wenig erleichtert, diesem schönen, aber auch unheimlichen Ort zu entkommen, griff Marie lachend seine Hand. »Ich will noch schnell meine Mutter anrufen. Ich melde mich immer, wenn ich auswärts übernachte. Das ist das Zugeständnis, wenn man zu Hause lebt.«

   »Willst du nicht zu mir ziehen? Die Wohnung ist groß genug, und während der Woche bin ich sowieso immer in London, wie du weißt.«

   Marie war völlig überrumpelt. Schon nach wenigen Wochen zusammenzuziehen, schien ihr etwas übereilt. Ausgerechnet von Alexander, der so mysteriös schien und kaum etwas von sich preisgab, hätte sie dieses Angebot nicht erwartet. Er meinte es offensichtlich ernst. Sein Blick war abwartend, offen. Doch warum nicht einmal die Vernunft außer Acht lassen und dem Herz folgen, das keine Regeln kannte, nicht monatelang prüfte und abwog, bevor man zusammenzog? So würde sie ihm endlich näher kommen. Seine Rätsel lösen. »Ich denke drüber nach, aber es kommt auf das Frühstück an, das du mir bietest.« Marie lachte. Im strahlenden Licht des jungen Tages war das Düstere um ihren Alexander verschwunden. Sie war verliebt! Ja, sie würden zusammenziehen, heiraten und Kinder kriegen, und alles wäre gut.


Entscheidungen

    Maries Eltern waren nicht überzeugt von ihrer überhasteten Aktion. Sie sahen sich ratlos an, der Vater schwieg, aber ihre Mutter konnte nicht an sich halten: »Liebes, geht das nicht ein bisschen schnell? Du hast doch hier so viel Platz. Ihr kennt euch kaum ein paar Wochen und wollt schon zusammenziehen?«

   Das waren zwar auch ihre eigenen Bedenken, aber angesichts des elterlichen Widerspruchs wollte Marie sie nicht mehr gelten lassen. »Ich weiß, Mama, aber ich bin jetzt fünfundzwanzig, kein Alter, um zu Hause zu wohnen. Alexander hat eine große Wohnung. Ich mag ihn, sogar sehr. Und du wolltest doch, dass ich mich auf einen Mann einlasse.«

   Ihr Vater zuckte mit den Schultern. Seine Tochter war erwachsen. Er und seine Frau hatten in dem Alter schon lange zusammengewohnt, sogar im fernen Ägypten mit Marie im Laufstall.

  Seine Frau wollte noch nicht aufgeben. »Aber gleich zusammenziehen!« Doch mit einem Blick auf den resoluten Ausdruck im Gesicht ihrer Tochter lenkte sie ein. »Du sollst nur wissen, dass du hier immer ein Zuhause hast!«

»Ich weiß doch, Mama.« Marie gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und umarmte ihren Vater kurz. »Ich geh schnell zu Charlie rüber und erzähle ihr die Neuigkeit. Wir haben uns seit Leos Geburtstag nicht gesehen.«

 ***

   Charlie begrüßte sie herzlich. Als Marie mit den Neuigkeiten heraussprudelte, zog sie ihre Augenbrauen hoch und schaute sie zweifelnd an. »Ihr legt ja ein ganz schönes Tempo vor. Sehen, Motorrad fahren und dann gleich zusammenziehen … Bist du sicher, dass das schlau ist?«

   »Naja, ein klein wenig ist schon noch dazwischen passiert.« Marie blickte ihre Freundin vielsagend an und grinste verräterisch.

   »Oha, erzähl schon!«

   »Wo ist eigentlich Leo?«, fragte Marie, um die Spannung aufrechtzuerhalten.

   »Der schläft ausnahmsweise. Seit seinem Geburtstag scheint auch er den Mittagsschlaf zu genießen, ist halt schon ein reifer Knabe. Aber jetzt erzähl endlich.« Dabei boxte sie Marie leicht in die Schulter.

   »Ach, Charlie, er ist einfach toll! Alexander ist sexy und liebevoll. Er hat die zärtlichsten Hände, die weichsten Lippen, den tollsten Körper …« Marie blickte versonnen an die Decke. Sie sah sich mit Alexander in dem kleinen Haus am See im Bett liegen, fühlte erneut seine Begierde und wie ihr eigener Körper darauf reagierte.

   »Okay, okay, ich habe verstanden. Aber reicht das alles, um schon zusammenzuziehen?«, unterbrach Charlotte ihre Aufzählung.

   »Ich weiß, dass es schnell geht, aber ich fühle mich wohl bei ihm, seine Wohnung ist groß, und ich bin alt genug«, wiederholte Marie die Argumente, die sie vor ihrer Mutter gebraucht hatte. Allerdings verschwieg sie auch ihrer besten Freundin, was eigentlich dagegensprach: das Geheimnisvolle um Alexander, die dunklen Maskenfeste und deren erotische Anziehung, die er anscheinend brauchte, das Rätsel, das ihn mit David und dessen Schwester verband. Aber wenn sie es zugab, waren all diese Dinge auch unheimlich spannend und anziehend. Sobald sie erst einmal mit Alexander zusammenwohnte, würde sie manches Rätsel lösen, da war sie sicher! Um Charlie von ihren Einwänden abzubringen, die sie nicht hören wollte, wechselte Marie das Thema. »Wie geht’s denn mit deinen Araberinnen? Brauchst du doch keine Übersetzungshilfe?«

   »Im Moment bin ich noch mit den Entwürfen beschäftigt. Wenn die Anprobe ansteht, ruf ich dich aber ganz sicher an.«

   »Alles klar.« Mit einem Mal konnte Marie ihre Ungeduld kaum noch bezähmen. »Du, ich muss jetzt heim, packen!« Lachend drückte sie ihre Freundin und verließ strahlend die Wohnung.

   Charlotte schaute ihr nachdenklich nach. Es ging wirklich unheimlich schnell mit den beiden, und irgendwas schien ihr Marie nicht erzählen zu wollen. Immer wieder hielt sie mitten im Satz inne und wechselte das Thema. Aber trotzdem, so hatte sie noch nie gestrahlt. Ihre Freundin liebte diesen Alexander offensichtlich. Höchste Zeit, dass ich mir den Burschen mal anschaue, dachte sie. Vielleicht sollte sie die beiden zu sich nach Hause einladen. Dann konnte ihr Mann auch gleich einen Blick auf ihn werfen. Zufrieden mit dem Entschluss ging sie zu ihrem Kleinen ins Zimmer. Der rekelte sich und rieb sich den Schlaf aus den zugekniffenen Kinderaugen. Wie sie den kleinen Kerl vergötterte! Sie nahm ihn auf den Arm und ließ sich von ihm etwas Unverständliches erzählen, während sie das Fläschchen zubereitete.


Zusammenleben

   »Hier kannst du deine Sachen einräumen, und da ist Platz für deine Zahnbürste.«

   Marie stand noch etwas unentschlossen mit ihren Taschen im Schlafzimmer. Beobachtete gerührt, wie Alexander auf den halbleeren Schrank zeigte. Seine Pullover waren in zwei Fächer gequetscht und die Hemden hingen viel zu dicht auf der ihnen zugewiesenen Seite. Es war das erste Mal, dass sie mit jemandem zusammenwohnen würde. Für Alexander ebenfalls, aber er schien keine Bedenken zu haben, ganz im Gegenteil, bemerkte Marie und entschied, sich auch nicht vor der gemeinsamen Zukunft zu fürchten. Was wollte sie auch mehr als ein Leben an der Seite des Mannes, den sie liebte?

   Während sie ihre Kleider einsortierte, das Badezimmerschränkchen mit ihren Utensilien einräumte und sich über die langstielige Rose in der silbernen Vase freute, die an ihrer Seite des Bettes stand, hörte sie Alexander in der Küche eine fröhliche Melodie pfeifen.

   Als sie schließlich alles verstaut hatte, schlugen ihr schon köstliche Gerüche entgegen.

   »Wie hast du das nur alles so schnell gezaubert?«

   Das Esszimmer war in Kerzenlicht getaucht, gekühlter Champagner perlte im Glas und auf einer Schale lagen ein paar Türmchen aus Honigmelone und Schinken und andere aus Tomaten und Mozzarella.

   »Das hier habe ich gekauft, aber warte nur, bis der Hauptgang kommt.«, sagte Alexander, während er ihr den Champagner in die Hand drückte, den Stuhl für sie heranzog und ihr einen zärtlichen Kuss gab.

   »Du verwöhnst mich.«  

   »Von nun an jeden Tag. Aber lass uns essen, sonst gerät meine Menüfolge durcheinander!«

   Sie stießen an, dann machten sie sich mit großem Appetit an die kleinen Köstlichkeiten.

   Sofort danach sprang Alexander auf. Als Marie ebenfalls aufstehen wollte, drückte er sie wieder auf den Stuhl.

»Du bleibst sitzen. Lass dich einmal verwöhnen!«

   Als Nächstes tischte er einen köstlichen Lachsspinatauflauf auf, den sie sich auf der Zunge zergehen ließen, anschließend kleine Schüsseln mit Schokoladenmousse und Beerensoße.

   »Ich bin so satt, ich werde nie mehr was essen können! Wer hätte gedacht, dass du so gut kochen kannst?« 

   »Was ich mache, mache ich ganz oder gar nicht. Das solltest du wissen.« Alexanders Blick verriet genau, woran er dachte und Marie ging nur zu gern auf sein Necken ein.

   »So? Was meinst du denn genau?«

   »Ich zeig`s dir.« Mit rauer Stimme zog er Marie ins Schlafzimmer. Vor dem Bett entkleidete er sie vollständig, dann zog er sich aus, ohne den Blick von ihrem Körper zu wenden. Als sie sich hinlegen wollte, hielt er sie auf.

   »Warte.«

   Er stellte sich hinter sie, fuhr mit den Händen ihren Rücken entlang, küsste sie auf den Nacken und murmelte ihr mit heißem Atem verlockende Versprechungen ins Ohr.

   Marie erschauerte.

   Dann zog er sie aufs Bett, fuhr fort, sie am ganzen Körper zu küssen, strich mit den Fingern quälend leicht über ihre geöffneten Innenschenkel und entfachte ihre Lust. Erst als sich Marie ihm stöhnend entgegen bog, drang er endlich, endlich in sie ein.

   Beide bewegten sich wie im Fieber, bis sie zum Höhepunkt kamen.

   In seinen Armen schlief Marie ein und in seinen Armen wachte sie auf und entschied, dass sie die glücklichste Frau auf der ganzen Welt war.

   Nachdem sie gemeinsam gefrühstückt hatten und Alexander sich mit einem letzten zärtlichen Kuss ins Büro verabschiedet hatte, rief sie ihre Freundin an und lud sie in ihr neues Zuhause.

   Als Charlie nur wenig später mit Leo auf dem Arm in die Wohnung trat, stand Marie ihr stolz und mit leuchtenden Augen gegenüber.

   Charlie setzte ihren Sohn auf den flauschigen Teppich und drückte ihm seine Quietschente in die Hand.

   »Wow, das nenne ich eine Traumwohnung! Für den kleinen Kerl hier entschieden zu viel Weiß, aber für Erwachsene perfekt. Wie fühlst du dich? Obwohl, eigentlich musst du mir das nicht beantworten. Deine Augen leuchten. Ich freue mich so für dich.«

   Marie umarmte ihre Freundin und setzte sich mit ihr neben den kleinen Leo, der sie anstrahlte.

   Sie verbrachten einen schönen Nachmittag und abends revanchierte sich Marie bei Alexander mit einem frischen Gartensalat und einer feinen Pasta Arrabiata, die Alexander freudig überrascht und mit großem Hunger verspeiste.

   Wenn so Zusammenwohnen aussah, dann hätte sie es schon längst tun sollen ...


Versuchung

   Wochen vergingen, Marie zog zu Alexander, besuchte wochentags zahlreiche Kunstausstellungen und freute sich auf die gemeinsamen Wochenenden mit ihm. Wenn er da war, gingen sie aus oder blieben zu Hause, kochten gemeinsam, fuhren Motorrad und genossen ihr leichtes, unbeschwertes Leben. Er war liebevoll und aufmerksam am Tage und leidenschaftlich in der Nacht. Allmählich verblassten die Erinnerungen an die Maskenfeste.

   Doch als Alexander an einem Freitag anrief, um zu sagen, dass er in London bleiben müsse, einen wichtigen Geschäftstermin nicht verschieben konnte und somit leider erst eine Woche später heimkommen würde, kroch neben der Enttäuschung auch der Zweifel hoch – und Neugier. Was, wenn der Termin nur vorgeschoben war und Alexander in Wirklichkeit genug von ihrem braven Beziehungsalltag hatte? Was, wenn er eine Einladung zu einem Maskenfest bekommen hatte und nicht widerstehen konnte? Hatte David nicht damals im Park davon gesprochen, dass Alexander überall auf Maskenfeste ging? Sie musste endlich herausfinden, was es mit den Festen auf sich hatte!

   Den ganzen Tag versuchte sie sich abzulenken, etwa, indem sie an die frische Luft ging, doch das Geheimnis zog sie wie ein Magnet immer wieder in die Wohnung zurück. Sie wusste, dass es nicht richtig war, dass sie Alexander damit hinterging, doch sie konnte nicht anders; sie begann, seine Schubladen durchzusehen. Irgendeinen Hinweis auf die mysteriösen Feste musste es doch geben. Je länger sie suchte, desto verbissener wurde sie, immer darauf bedacht, nur ja keine Spuren zu hinterlassen. Weder im Wohn- noch in seinem Arbeitszimmer hatte sie Erfolg. Auch im Schlafzimmer fand sie nichts Verdächtiges, aus dem Schrank schlug ihr nur der Geruch nach Bitterorange entgegen, der in seinen Kleidern hing.

   Marie war es mit einem Mal, als sehe Alexander ihr missbilligend über die Schulter, und sie bekam ein schlechtes Gewissen. Ein knackendes Geräusch ließ sie zusammenfahren, aber es war nur einer der Holzbalken. Ein Zeichen, schick mir ein Zeichen!, bat sie nach oben. Wenn er jetzt zur Tür hereinkommt, werde ich nie mehr suchen und fragen, alles vergessen, was in der Vergangenheit war, ihn lieben, so wie er ist.

   Doch er kam nicht. Und sie ging in den Keller.

   Nachdem sie eine Weile ziellos in den Regalen herumgekramt hatte, entdeckte sie, von einigen Kartons fast verstellt, eine alte Kommode. In der obersten Schublade lagen alte Papiere aus seinem Büro. Rechnungen, Verträge, Kontoauszüge aus vergangenen Jahren. Die mittlere Schublade enthielt Fotos.

   Es schienen alte Familienfotos zu sein, seine Eltern, die sie bisher noch nicht kennengelernt hatte. Seine Mutter war eine schöne Frau. Von ihr hatte er also die hellgrauen Augen und die dunklen Haare. Sie hat etwas von einer Indianerin, dachte Marie. Alexanders Vater hielt seine Frau auf einem Bild im Arm, blickte stolz in die Kamera. Ein Bild zeigte Alexander als Teenager mit längerem Haar und verwegen engen Schlaghosen. Marie musste lachen und legte die Fotos wieder in die Schublade. Irgendwie fühlte sie sich als Eindringling, auch wenn an den Bildern nichts Anstößiges war. Sie würde nicht länger suchen und an Vergangenem rühren. Entschlossen drehte sie sich um und wäre beinahe in ein Weinregal gestolpert, konnte sich gerade noch abstützen. Dabei verrutschte eine der Weinflaschen. Sie wollte sie zurückschieben, als sie etwas Dunkles hervorblitzen sah. Marie ging näher, nahm die Flasche ganz heraus, und dort fand sie eine kleine Kartonbox. Darin lag ihre Maske. Hier also bewahrte er sie auf. Doch wo war seine? Da entdeckte sie ein Kuvert. Zögerlich öffnete sie es und zog eine Einladung heraus! Mit klopfendem Herzen las sie Adresse und Datum – es war heute! In wenigen Stunden würde es ein Maskenfest geben; ging er ohne sie hin? Vielleicht hatte er eingesehen, dass sie für diese Feste nicht zu haben war, wollte aber trotzdem nicht darauf verzichten. War der Flug nach London nur vorgeschoben? Sie musste Gewissheit haben!

   Mit fahrigen Bewegungen und bangem Gefühl streifte sie ein elegantes Kleid über. Sie zitterte. Alexander würde ihr den Vertrauensbruch sicher nicht verzeihen. Sie wischte ihre feuchten Hände am Handtuch im Bad ab, bevor sie sich die Haare richtete. Was machst du dir Gedanken, ob er dir verzeihen kann?, schalt sie sich selbst. Wenn er dort ist, hat er ja wohl zuerst gelogen und Vertrauen gebrochen! Könnte sie ihm das vergeben? »So ein Unfug«, sagte sie laut und lachte nervös. Ganz sicher war er in London, wie er gesagt hatte. Ein neuer Schreck fuhr ihr in die Glieder. Wenn jemand auf der Party sie als Alexanders Begleiterin wiedererkannte? Wenn er von jemand anderem erführe, dass sie dort gewesen war … Was würde passieren? Was wollte sie selbst eigentlich dort? Sie konnte sich die Frage nicht beantworten, wollte es nicht einmal. Aber sie wusste, dass sie dorthin musste.

Entschlossen stopfte Marie die Maske in ihre Handtasche. Das Taxi wartete schon vor der Tür, und sie bestieg es mit dem Gefühl eines Opferlamms auf dem Weg zur Schlachtbank. Da half es wenig, dass sie das Viertel kannte, in der die Feier diesmal stattfinden sollte. Es war einer der vornehmsten Stadtteile und lag in der Nähe des Kasinos. Da sie beim letzten Mal so abrupt gestört worden waren und die Feier vorzeitig verlassen hatten, wusste Marie nicht, was sie heute erwarten würde. Sie malte sich alle möglichen Szenarien aus und schwankte zwischen Angst und Erregung. In ihren Ohren brauste es, ihr Herz schlug hektisch und ungleichmäßig.

   Das Taxi hielt vor einer wunderschönen Villa, die hell erleuchtet war. Unentschlossen blieb sie im Fonds des Wagens sitzen. Noch konnte sie umkehren, alles vergessen, zu Hause auf Alexander warten. Der Fahrer drehte sich fragend um, und wie fremdgesteuert zahlte sie und stieg aus. Der Wagen brauste davon und mit ihm ihre letzte Sicherheit.

   Nervös setze sie die Maske auf, ging die paar Schritte über den Kies und klingelte. Der Portier vom letzten Fest öffnete ihr die Tür, nahm die Einladung schweigend entgegen und forderte sie auf, zu unterzeichnen. Marie zögerte. Mit welchem Namen sollte sie unterschreiben? Kurz entschlossen setzte sie einfach Alexanders Nachnamen auf das Papier. Erwartungsvoll schaute sie den Portier an, der nur nickte und sie eintreten ließ.

   Marie betrat den festlich dekorierten Salon. Sie war spät dran; es waren bereits zahlreiche andere Maskierte anwesend. Sie bemerkte, dass sie als Einzige alleine kam. Man stand in kleinen Gruppen, auch der Klavierspieler war wieder da. Marie schaute sich um, ging von Raum zu Raum, konnte Alexander aber nirgends erblicken. Hoffentlich verbarg die Maske ihre panischen Blicke. Statt seiner entdeckte sie in der Ecke eines Ganges David. Obwohl auch er diesmal eine Maske trug, erkannte sie ihn sofort. Im Gegensatz zu den anderen Gästen stand er steif da, strahlte Missbilligung und Abscheu aus. Er musste es sein. Doch was machte er hier? Wie erfuhr er von den Festen, wo doch die Einladungen im Geheimen verschickt wurden? Marie steuerte auf ihn zu.

   Bevor sie ihn erreichte, ging das Licht aus. Marie wurde davon überrascht. Das letzte Mal war es erst um Mitternacht passiert, nach dem Essen. Noch wusste sie nicht, was es damit auf sich hatte. Das Klavierspiel stoppte. Ein Raunen ging durch den Saal. Die übrigen Anwesenden schienen die plötzliche Finsternis erwartet zu haben; es wurde geflüstert und gekichert.

   Zögerlich tastete Marie sich weiter dorthin vor, wo sie David vermutete, und fühlte sich unter dem Mantel der Dunkelheit sicherer als zuvor, nicht mehr so beobachtet. Sie wollte den Weg zu David aufnehmen. Vielleicht konnte er ihr mehr über das Fest sagen. Langsam ging sie weiter. Stimmen wisperten in der Dunkelheit, die Atmosphäre war erotisch aufgeladen, Marie zuckte zurück, wenn sie jemanden berührte, fühlte Hände nach ihr tasten, doch sie schritt mit klopfendem Herzen weiter ...

 

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