Wismar, 16. November 2013
Das Läuten des Telefons riss Ingo aus einem unruhigen Schlaf. 6:30 Uhr. Wer rief so früh an? Das hatte doch bestimmt nichts Gutes zu bedeuten.
»Fellbac«“, meldete Ingo sich. Er war auf alles gefasst, aber nicht darauf, diese Kinderstimme zu hören: »Der White King lässt dir seine Grüße ausrichten. Von deinem bisherigen Spiel ist er sehr begeistert. Er sieht seine Erwartungshaltung erfüllt und gratuliert dir zu der spielerischen Disziplin, die er sich auch gewünscht hat. Es gibt aber Dinge, die er sich so nicht vorgestellt hat. Deshalb bittet er dich, eine Nachricht aus deinen Briefkasten zu holen. Ab jetzt wird der Weiße König keinerlei Enttäuschung mehr tolerieren.«
Ingo wurde es übel. Es fiel ihm schwer, überhaupt zu atmen. Einen Moment dachte er, dass er das Bewusstsein verliert. Dann hastete er kopflos zum Briefkasten.
Dieses Mal fand er nur einen Briefumschlag. Hoffnung keimte auf. Er zog den Brief heraus und las:
Lieber Ingo,
einerseits betrachte ich dich als einen würdigen Gegner. Andererseits enttäuschst du mich doch immer wieder. Du enttäuschst mich, insbesondere weil du mich unterschätzt.
Du solltest längst gemerkt haben, dass du es nicht mit irgendwem zu tun hast und dass ich in das gesamte Unterfangen Leidenschaft und Genialität fließen lasse.
Habe ich dir nicht eindrücklich gesagt, dass du alles unterlassen sollst, nach mir zu suchen? Dennoch bastelst du mit Paul an dieser Namensliste, die ihr aufgrund eurer Erinnerung erstellt. Das ist dumm, eine unglaubliche Ignoranz. Solche Fehler machst du von Anfang an. Kennst du den Satz von Johann Wolfgang von Goethe? ‚Wer das erste Knopfloch verfehlt, kommt mit dem Zuknöpfen nicht zu Rande.‘ Da hat er recht.
Aber es gibt auch noch die Weisheit eines weiteren genialen Kopfes, Winston Churchills. Er sagte einmal, der Vorteil des Lebens liege darin, dass man Fehler, aus denen man lernen kann, möglichst frühzeitig macht.
Solltest du also tatsächlich lernen, ist noch nicht alles für dich verloren. Betrachte das beigefügte Foto als eine Lernhilfe, mit der ich dich in deinem und in Julias Interesse leider konfrontieren muss. Beuge dich nie der Autorität, doch lüfte stets den Hut vor ihr.
In diesem Sinne verbleibe ich voll der Freude auf die Fortsetzung unserer interessanten Partie.
White King
Ingo war bleich. Was für ein Foto? Ich habe nur den Brief aus dem Umschlag gezogen. War da noch ein Foto drin? Er griff nach dem Umschlag und tatsächlich befand sich darin noch ein Foto. Zitternd zog er es heraus. Als er es ansah, packte ihn das reine Entsetzen. Tränen schossen ihm in die Augen. Er stieß einen erstickten Schrei aus, ließ das Foto fallen und sackte auf die Knie. Neben ihm auf dem Boden lag das Bild. Es zeigte Tanjas Kopf und nackten Oberkörper. Ihre Augen waren weit aufgerissen und schienen ins Leere zu blicken. Der Hals war komplett durchtrennt. Eine große Blutlache umsäumte ihren toten Körper.
*****
Irgendwo, 18.11.2013
Ein junges Mädchen in einem hübsch eingerichteten Jugendzimmer. Der Raum hatte zwar keine Fenster, war aber sehr ansprechend ausgestattet. Die Möbel waren hochwertig und entsprachen sicher dem typischen Geschmack von Teenagern. Auch die Bilder an der Wand bewiesen Geschmack, waren aber gleichzeitig geeignet, das Auge junger Menschen zu erfreuen. Viele Pflanzen und bunte Fische in einem großen Aquarium gaben dem Ganzen etwas Lebendiges.
Ein großer Flachbildschirm versprach entsprechende Unterhaltung. Was das idyllische Bild trübte, war das Mädchen selbst. Ihre dick bandagierte Hand wies auf Schmerz hin. Aber mehr noch waren es ihre Augen. Ihr Blick war leer. Tränen hatten sie lange nicht vergossen. Julia konnte nicht mehr weinen.
Auch zu denken fiel ihr schwer. Sie wusste nicht, wie sie hierhergekommen war. Ihre Hand schmerzte manchmal, aber nicht so doll. Das lag auch an den Medikamenten, die ihr der fremde Mann gegeben hatte. Nachzuschauen, was mit ihrer Hand war, das hätte sie sich nicht getraut, selbst wenn sie den Verband hätte abnehmen können.
Würde sie bald sterben müssen? Das hatte sie sich oft gefragt. Sie wusste es nicht, aber Angst hatte sie keine. Nur davor, dass ihr der Mann wieder wehtun könnte.
Den Mann hatte sie noch nie richtig gesehen. Immer wenn er in ihr Zimmer kam, trug er einen dunklen Trainingsanzug, schwarze Joggingschuhe, eine Kapuze und über das Gesicht gezogen eine Maske, die nur kleine Sehschlitze hatte. Dann brachte er ihr etwas zu essen, sagte aber nichts.
Und immer abends, bevor das Licht ausging, schaltete er von draußen dieses Lied von Pink Floyd an, das ihr Papa auch so gerne hörte. Ihr Englisch war nicht sehr gut, aber den einzigen gesprochenen Satz in dem Lied konnte sie sehr gut verstehen:
One of these days I will cut you into little pieces.
Eines Tages werde ich dich in kleine Stücke schneiden.
*****
Ingo hatte Stunden an Pias Bett im Uni-Klinikum gesessen. Jetzt war alles vorbei. Er saß bei Kerzenlicht auf seiner Couch im Wohnzimmer. In der Wohnung war es absolut ruhig. Diese Atmosphäre hatte er bewusst geschaffen, um sich völlig ungestört an Pias letzte Minuten erinnern zu können.
Sie hatte, wie schon so lange, ohne jede Regung dagelegen. Plötzlich hatte sie, das war völlig unerwartet, langsam die Augen geöffnet und ihn angesehen. Zu einer Bewegung oder auch nur einer leichten Änderung der Gesichtszüge war sie nicht in der Lage. Aber sie hatte ihn angesehen. Und ihre Augen hatten gestrahlt.
Er war nicht fähig gewesen, etwas zu sagen und er hatte auch gewusst, dass da nichts zu sagen war. Sich einfach nur anzusehen, das war in diesem Augenblick genau das Richtige. Das hatte er ganz deutlich gespürt.
Da war so viel in ihren Augen gewesen, was er hatte sehen können. Man sagte doch, dass Sterbende ihr Leben wie einen Film an sich vorüberziehen sehen. In ihren Augen hatte er diesen Film gesehen, einen Film voller gemeinsamer, glücklicher Momente. Er hatte ihre geliebten Gemälde in den Augen gesehen. Eine brennende Giraffe, zerschmolzene Uhren. In diesem Moment hatte er keine Traurigkeit gespürt. Auch keine Angst. Nur Dankbarkeit und eine grenzenlose Hoffnung ohne konkrete Erwartung. Dabei hatte er in seinem Inneren ein Lied von Pink Floyd gehört, das Pia und er so liebten: ›Shine on, you crazy diamond‹.
Nachdem ihre Augen endgültig geschlossen waren, hatte er ihr ein letztes Mal zugeflüstert: ›Leuchte weiter, du verrückter Diamant.‹
*****
So, wie auch Ines ihm half und guttat. Immer wieder hatte er sich vergegenwärtigt, dass sein Leben auch weiterhin in erster Linie darin zu bestehen hatte, Julia zu helfen. Wie langwierig und schmerzhaft das sein würde, war ihm inzwischen fast gleichgültig geworden.
Ines hatte ihn von dieser Reise überzeugt. Dass er, insbesondere Julia zuliebe, seinen Kopf freibekommen und Kraft schöpfen musste, war das gewichtigste Argument gewesen.
Heute Vormittag hatten sie, auf Ingos besonderen Wunsch, den Friedhof Le Cimetière du Père-Lachaise besucht. Der großzügig angelegte Parkfriedhof beherbergte die Gräber zahlreicher berühmter Persönlichkeiten wie Chopin, La Fontaine, Piaf und Rossini. Viele davon waren opulent, geradezu monumental gestaltet. Ingo interessierte sich jedoch nur für ein einziges, sehr schlichtes Grab. Es war das von Jim Morrison, des legendären, so früh gestorbenen Frontmanns der Doors.
Ingo war von Morrison nachhaltig beeindruckt und hatte sich in seinem eigenen Denken stark von ihm beeinflussen lassen. Heute Morgen hatte er still an seinem Grab gestanden und seinen Gedanken einfach freien Lauf gelassen.
Er hatte daran gedacht, dass Morrison beim Finden des Bandnamens von einem Essay Aldous Huxleys inspiriert war: ›The doors of perception‹; ›Die Pforten der Wahrnehmung‹
In diesem Essay hieß es, der Mensch sei in der Lage, sich an alles zu erinnern, was ihm je widerfahren ist, und alles wahrzunehmen, was im Universum geschah. Danach hätte das Gehirn lediglich die Funktion, Unnützes herauszuselektieren, um vor Verwirrung zu schützen. Gleichzeitig wies das Essay auf die Gefahr hin, diese reduzierte Welt mit der Wahrheit zu verwechseln. Genau diese Gefahr schlägt jetzt voll bei dir zu, war es Ingo durch den Kopf gegangen.
Dann hatte er wieder auf das Grab gesehen und über Morrison nachgedacht, den wohl bekanntesten Song der Doors, ›Light my fire‹, in seinem Kopfkino gehört.
Im Kern erzählte das Lied davon, dass man das Beste in Leben und Liebe versuchen und Hemmungen in der Erkenntnis zurücklassen sollte, dass das Schlimmste noch nach dem unvermeidlichen Tod passieren konnte. Bei Morrison war vom ›funderal pyre´‹ dem ›Scheiterhaufen‹, die Rede. Mit den gedachten Worten ›Light my fire, Jim‹ hatte Ingo sich von dem Grab verabschiedet.
Jetzt saß er mit Ines an diesem wundervollen Platz. Er beobachtete sie, während sie gedankenverloren und genießerisch um sich sah, alles aufzusaugen schien und einfach glücklich aussah. Selbst spürte er seit Langem zum ersten Mal auch so etwas wie Glück.
Wie vergänglich doch alles ist, dachte Ingo. Gutes wie Schlechtes. Das meiste ist einfach nur eine Illusion. Und doch auch so wichtig. Du musst lernen, die Illusion, auch dich selbst, als solche zu erkennen und zu werten. Erkennen, dass du nichts Statisches bist, nicht allein existierst. Wir sind alle voneinander abhängig, beeinflussen und bedingen uns.
Und alles unterliegt dem Gesetz von Ursache und Wirkung.
Er grinste.
»Was ist?«, fragte Ines neugierig.
»Nichts. Ich habe vor mich hin sinniert. Und festgestellt, dass ich manchmal ganz schön schwülstig denke. Ich glaube, du musst mich mal ein wenig erden.«
*** Ende der Leseprobe * * *
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