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Leseprobe: Die Wahrheit ist ein Schlund - Maria Zaffarana

 

 

 

 

 

Kapitel 1

 

    Unauslöschlich eingebrannt. Kaum ein Bild hat sich in meinem Gedächtnis so festgesetzt wie das meiner aufgebrachten Mutter an jenem Tag. Überraschend aufgeblitzt ist sie, die Erinnerung an ihr erzürntes Gesicht und an ihre Nüstern, die aufgebläht sind wie gasgefüllte Luftballons. Zwei unansehnliche schwarze Löcher. Es ist der Morgen, an dem alles begann. Der Anfang einer langen Odyssee. Nur ahnte ich das zu dem Zeitpunkt noch nicht.

    »Si tacuisses!«

    Wie aus heiterem Himmel fällt mir heute – fast vierzig Jahre später – dieser alte Lateinspruch ein. Den einst ein Lehrer – nicht gerade einer meiner Lieblingspädagogen – unter fast jede meiner Deutschklausuren schrieb. Davon abgesehen, dass diese vermeintlich launig verpackte Kritik die unüberbrückbare Distanz zwischen uns nur noch verschärfte, empfand ich sie darüber hinaus als zutiefst deplatziert. Umso angebrachter wäre sie an diesem verhängnisvollen Morgen gewesen.

    Sie nicht zu lüften, die Decke des Schweigens, damit wäre ich sicherlich besser beraten gewesen. Doch wie hätte ich das wissen sollen? Ich, der unbekümmerte Junge, der ich einst gewesen bin? Dem die Erfahrung der reifen Jahre ebenso fehlte wie ein gewisser Gleichmut, mit dem Erwachsene den wildesten Stürmen trotzen.

    Stattdessen ließ ich mich verleiten von jugendlicher Unbedarftheit, die nicht selten mit vorbehaltloser Aufrichtigkeit gekoppelt ist. Erst zu spät dämmerte mir mit leichter Bange, dass die Zukunft von da an vor mir liegen würde wie ein unberechenbarer Ozean oder – um weniger Pathos zu bemühen – wie eine unliebsame Butterfahrt.

    Das Gesicht meiner wutentbrannten Mutter hat sich mit solch einer ungeheuren Präsenz vor mein geistiges Auge geschoben, dass ich nicht mehr weiter arbeiten kann. Dabei war ich gerade dabei, meine nächste Vorlesung vorzubereiten. Doch das Thema, »Muttermotiv in der Weltliteratur«, von mir völlig unbedarft ausgesucht, hat mich von Odysseus', Ödipus' und Hamlets Mutter unvermutet zu meiner eigenen und zu jenem unvergesslichen Tag geleitet.

    Deutlich und übergroß sehe ich sie vor mir. Ich, gerade mal zwölf Jahre alt, stehe neben ihr. Den verunsicherten Blick auf sie gerichtet. Meine Mutter bebt. Auf ihrem Nasenrücken zeichnen sich Zornesfalten ab. Winzige gekräuselte Wellen. Die Lippen sind fest zugekniffen. Wie zwei weiße Schlangen, die sich eng aneinanderpressen, sehen sie aus. Zitternd greift meine Mutter zum Telefonhörer und wählt hektisch eine Nummer. Atemlos beobachte ich jede ihrer Regungen. Die Zeit, bis jemand abnimmt, scheint festgefroren. Eine eisige Kälte beherrscht die kleine Diele, in der wir uns gegenüberstehen. Beide verstummt. Gefangen gehalten in einem beunruhigenden Schweigen, das erst wieder gebrochen wird, als sich am anderen Ende der Leitung eine weibliche Stimme meldet. Mit einer Mischung aus erstickter Wut, Ratlosigkeit und Hysterie bittet meine Mutter die Frau, mit mir noch am selben Tag vorbeikommen zu dürfen.

    Als sie auflegt, blüht für einen Moment Erleichterung in ihrem rotfleckigen Gesicht auf. Der Moment ist aber nur von kurzer Dauer. Sie ist immer noch aufgebracht. Mehr als das. Ein Sturm tobt in ihr. Ich sehe, wie ein zorniger Wind ihren gesamten Körper durchrauscht. Meine Mutter zuckt wie zitterndes Laub. Brüsk teilt sie mir mit, dass wir am Nachmittag zu Frau Dr. Kaesen gehen. Ihre Stimme überschlägt sich, als sie das sagt und dabei schüttelt sie immerzu den Kopf, um ihrer Entrüstung hinreichend Gewicht zu verleihen.

    »Aber ich befürchte, dass dir dieses Mal, angesichts der Ungeheuerlichkeit deines Verhaltens, sowieso kein gewöhnlicher Kinderarzt mehr helfen kann«, zischt sie mir im Vorbeigehen zu.

    Ich bleibe alleine im Flur zurück. Wankend auf dem wegsackenden Boden meiner beschaulichen Kindheit. Und während ich damit kämpfe, das Gleichgewicht zu halten, steigt der bittere Geruch verlorener Eintracht in meine Nase auf.  

    Wie ein entferntes Echo hallt der letzte Satz meiner Mutter immer noch in mir nach. Vor allem der bedrohliche Unterton, der darin offenkundig mitschwingt, bereitet mir große Sorgen. Ich weiß zwar nicht genau, was sie mir damit sagen will, aber es schüchtert mich ein. Ratlos denke ich über die vermeintliche Ungeheuerlichkeit meines Verhaltens nach, die lediglich darin besteht, dass ich die Wahrheit gesagt habe, so wie es meine Mutter im Übrigen stets von mir verlangt. Wobei sie eine recht eigenwillige Interpretation von Aufrichtigkeit hat. Denn ehrlich zu sein, das gestaltet sich in unserer Familie ein wenig anders als bei anderen. Die Wahrheit ist weitaus verschachtelter und komplizierter – ähnlich wie Latein. Es kommt immer nur auf den Kontext an. Allein die Nebenumstände sind maßgebend, ob, wann und welcher Form die Wahrheit ans Licht gebracht werden darf. Wer diese Regeln beherrscht, kann nur in den seltensten Fällen etwas falsch machen. An diesem besagten Morgen ist leider einer dieser seltenen Fälle eingetroffen. Und so endet der Tag in und mit einem Desaster.

    Dabei deutet nichts auf eine Katastrophe hin, als ich in der Früh aufstehe, in die Küche gehe und mich zu den anderen setze. Meine Mutter bereits am Kopfende des Tisches, verpackt wie ein pastellfarbenes Bonbon in ihrem üblichen azurblauen Nachthemd. Die Haare hat sie nur halbherzig zu einem Knoten zusammengebunden. Die meisten Strähnen fallen rechts und links von ihrem Gesicht schlapp herunter. Nur der Pony ist akkurat, um zwei Lockenwickler gedreht. Wie die Hörner eines Steinbocks ragen die rot-gelben Wickler über ihrem Kopf hervor. Sie federn jedes Mal, wenn meine Mutter sich über ihr Müsli beugt, das sie laut schlürfend zu sich nimmt. Ein nervenzerreißendes Geräusch, das so klingt wie der Stoß eines Erdrutschs und das in meinen Ohren noch eine ganze Weile nachbebt – selbst dann, als meine Mutter längst aufgehört hat zu essen.

    Mein Vater, nach Rasierwasser riechend, im Anzug, und das Haar penibel kurz geschnitten, isst schweigend vor sich hin. Zwischendurch räuspert er sich, nippt an seinem Kaffee, schluckt laut, für meinen Geschmack zu laut, und schaut dabei ins Nichts. Hin und wieder schaut er zu uns herüber. Aber eigentlich sieht er nur mit ausdrucksloser Miene durch uns hindurch.

    Unmittelbar vor mir, aber glücklicherweise in gebührendem Abstand, sitzt meine Schwester. Von ihrem runden Gesicht erkenne ich so gut wie nichts. Ich erblicke nur den Ansatz ihrer Stirn und den Kopf mit den braunroten störrischen Locken. Denn Martina ist tief über ihren Teller gebeugt. So wie ein Tiger seine Beute zerfleischt, so verschlingt sie gerade ihr Brot. Sie macht dabei sogar ähnliche Geräusche wie eine Raubkatze. Martina schmatzt, sabbert, leckt sich über die Lippen und ich bilde mir sogar ein, sie vor Entzücken schnurren zu hören.

    Das Bild, das sich mir an diesem Morgen darbietet, unterscheidet sich in keinster Weise von denen anderer Tage. Aufmerksam betrachte ich meine Familie. So wie es nun mal meine Gewohnheit ist, alles um mich herum eingehend zu studieren. Nichts Besonderes also. Hätte meine Mutter mich an diesem besagten Morgen nur nicht erstmals danach gefragt.

    »Du beobachtest uns ja. Warum? Was geht dir durch den Kopf?«

    Noch nie zuvor hat sie das getan. Ich weiß nicht, ob es ihr bis dahin nicht aufgefallen ist oder ob sie sich nicht dafür interessiert hat. Aber nun will sie wissen, worüber ich denn nachsinne. Diese ungewohnte Anteilnahme überrascht und beglückt mich zugleich.

    »Sag schon, Tim«, fordert sie mich erneut auf.

    Meine Schwester blickt kurz von ihrem Teller auf, nickt teilnahmslos und stopft den nächsten Bissen zwischen ihre prallgefüllten Wangen.

    Es beglückt mich auf gewisse Weise, meinen Gedanken eine Stimme zu geben. Das bislang Unausgesprochene endlich in Worte zu fassen. Obwohl mir meist nicht viel daran liegt, mich mitzuteilen. Reden, das ist nämlich eine Kunst, für die ich mich einfach nicht begeistern kann. Unterhaltungen führe ich in der Regel und mit Vorlieb nur im Zwiegespräch mit mir selbst. Doch heute mache ich eine Ausnahme.  

    »Ich ekel mich vor euch«, platzt es deswegen unverzüglich aus mir heraus.

    Mir missfällt jedoch die semantische Komposition des Satzes. Die ungewohnte Aufmerksamkeit hat mich wohl ein wenig überschwänglich werden lassen.

    »Nein, Entschuldigung, ich meine: Ihr ekelt mich an!«

    Genauso habe ich es ausdrücken wollen. Einfach, präzise und ehrlich. Zufrieden lehne ich mich zurück. 

 


 

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